John Eliot Gardiner dirigiert Beethovens Neunte atemberaubend und verleiht ihr mit mit dem London Symphony Orchestra einen ambivalenten Duktus

Hamburg. Freude, Liebe, Brüderlichkeit - hehre Worte das. Beethoven, eigenwilliger und politischer Kopf, der er war, wusste nicht nur um den Wert dieser Ideale, sondern auch um ihre Abgründe. Wie er in seiner Oper "Fidelio" den unglücklich gefangenen und fieberkranken Florestan sich an dem Wort "Freiheit" vor Überwältigung geradezu verschlucken lässt, ist schlicht herzzerreißend.

Der große, noch nicht gar so alte Mann der englischen Originalklangbewegung, Sir John Eliot Gardiner, hat bei seinem umjubelten Konzert in der Laeiszhalle Beethovens Neunter einen ähnlich ambivalenten Duktus verliehen - fast ein Sakrileg, ist doch die mythenumwobene letzte Sinfonie des Titanen das Herzstück mitteleuropäischer kultureller Identität und soll, bitte schön, als Hochamt zelebriert werden.

Gardiners Lesart hatte indes kein Gramm Pathos. Im Verein mit dem London Symphony Orchestra skelettierte er das Werk förmlich. Kein zweckfreier Wohlklang versperrte den Blick auf die zerklüfteten Strukturen. Stattdessen folgten ihm die Musiker so agil, wie man es einem ausgewachsenen Sinfonieorchester nicht zutrauen würde. Da hing nichts über, jede kleine Wendung und jede dynamische Nuance erschienen wie gemeißelt.

Der entschieden und vor allem einheitlich vibratoarme Streicherklang war ein Zeichen dafür, wie genau Gardiner seine Vorstellungen verwirklicht, auch wenn er nicht am Pult seines eigenen, mit Originalinstrumenten besetzten Ensembles steht. Vor allem aber entwickelten die Beteiligten so ein Farbspektrum, das seinesgleichen suchte. Die Hörner schmetterten nur so, und ja, auch die Neunte hat ihre naturhaften Stellen.

Gardiners Kompromisslosigkeit zeigte sich bei aller tänzerischen Lässigkeit seines Dirigats im monumentalen Schlusssatz. Da schüchterte er den Saal regelrecht ein mit seinem gänzlich unsentimentalen und um so bestürzenderen Zugriff. Das "Alle Menschen werden Brüder" schrie der Monteverdi Choir wie in höchster Not. Statt die unbequem instrumental geführten Partien der Gesangssolisten zu glätten, strich Gardiner das Widerspenstige, Aufrüttelnde daran heraus, und sei es um den Preis, dass sie sich gegen die Mammutbesetzung von Chor und Orchester manchmal nicht durchsetzen konnten.

Eine atemberaubende, aufrüttelnde Neunte war das - nebenbei eine ganze Viertelstunde kürzer als das Gardemaß von Karajan. Vorweg gab es eine hinreißend schwungvolle Fassung von Beethovens sinfonischem Erstling, seiner C-Dur-Sinfonie. Schade nur, dass die Dame in Reihe 15 in gefühlt jedem Satz und noch an den zartesten Stellen einen Bonbon aus ihrer Tasche kramte und auswickelte. Einmal hat sie's unterlassen. Dafür war dann ihr Begleiter dran.