Preise steigen, das Brot bleibt in aller Munde. Nirgendwo sonst gibt es 300 verschiedene Sorten. Eine Betrachtung über die Vielfalt des Korns.

Man könnte auch ohne Brot leben. Die Chinesen beweisen es. Doch ein Leben ohne Brot wäre, um die Sentenz eines berühmten deutschen Denkers abzuwandeln, zwar möglich, aber sinnlos. Jedenfalls hierzulande. Wo man bekanntlich das beste Brot der Welt backt und wo man mit Brot alle Mahlzeiten durchdeklinieren kann: Frühstücksbrot, Mittagbrot, Abendbrot. Und dazu kommen ja noch schöne Extras wie Schulbrot, Pausenbrot oder Gnadenbrot.

Anhand des Brotes zeigt sich eben, was die Deutschen draufhaben, wenn sie sich mal richtig in eine Sache reingekniet haben. Der Zentralverband des Deutschen Bäckerhandwerks, der die deutsche Brotvielfalt von der Unesco als Weltkulturerbe schützen lassen will, lässt alle deutschen Sorten im "Deutschen Brotregister" registrieren (siehe Text unten). Deutschlands oberster Bäcker, der Hamburger Peter Becker (!), schätzt, dass es etwa 300 signifikant unterschiedliche Brotsorten bei uns gibt. "Und signifikant heißt nicht, dass einer eine Prise Salz mehr nimmt als der andere." Auf die Zahl an sich, sagt Becker, komme es ihm eigentlich gar nicht an, sondern auf den Beweis, dass Deutschland in puncto Brot ein Schlaraffenland sei. Was im Übrigen jeder bestätigen kann, weil quasi an jeder Ecke eine Bäckerei ist.

Die Deutschen sind nicht nur berühmt für ihr Brot, sondern sie essen auch viel davon: 53 Kilogramm pro Jahr. Aber so eine Zahl ist ja immer relativ. Die Osteuropäer schaffen viel mehr - die Rumänen haben beispielsweise einen Pro-Kopf-Verbrauch von 100 Kilo -, und die Weltmeister unter den Brotessern sind die Türken. Die verputzen 200 Kilogramm Ekmek pro Jahr. Ein Fladenbrot, das praktischerweise mit allem gefüllt (Döner) oder in alles eingetunkt werden kann. Andererseits ist dieses Ekmek ja ein Nichts von einem Brot im Vergleich zu deutschem Misch-, Vollkorn- oder Schwarzbrot. Und ein Deutscher, der im Urlaub wochenlang Ekmek essen muss oder labberiges amerikanisches Weißbrot oder spanisches Pan tostado (in Spanien ist Bäcker nicht mal ein Lehrberuf, was die Frage aufwirft, warum sich Brüssel an der Gurkenkrümmung festgebissen, dieses Manko aber nie ins Auge gefasst hat ...), sehnt sich irgendwann zurück.

Deutsches Brot ist für jeden Deutschen der Inbegriff von Heimat. Ähnlich gefühlsbeladen wie der deutsche Wald oder deutsche Weihnachten. Auch Deutschlands Exilanten haben ihr Heimweh ja nicht nur an die Sprache, sondern auch ans Brot geknüpft. Selbst ein harter Knochen wie Bert Brecht klagte 1941 in Amerika: "Es gibt kein richtiges Brot in den Staaten, und ich esse gern Brot!"

Leo der Körnige und Eifelprotz

"Der Mensch lebt nicht vom Brot allein." Sagt die Bibel. "Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, irgendwann braucht er einen Drink". Sagt Woody Allen. Auch Goethe entging der Verballhornung nicht. Aus seinen unsterblichen Zeilen "Wer nie sein Brot mit Tränen aß, / Wer nie die kummervollen Nächte / Auf seinem Bette weinend saß, / Der kennt euch nicht, ihr himmlischen Mächte" machte der Volksmund ein fideles "Wer nie sein Brot im Bette aß, weiß nicht, wie Krümel pieken". Es gibt auch hübsche Brot-Bonmots wie "In der Not schmeckt die Wurst auch ohne Brot" oder "Heut' mach ich mir kein Abendbrot, heut' mach ich mir Gedanken". Andererseits hört der Spaß aber auch schnell wieder auf. Weil Brot in Deutschland nach wie vor als existenzielles Grundnahrungsmittel empfunden wird. Genauer gesagt: gutes Brot. Wer nicht selbst zu denen gehört, die lange Wege in Kauf nehmen, um sich gutes Brot zu beschaffen, kennt ganz sicher Leute, die so etwas machen. Als spleenig gilt das nicht. Schon gar nicht in Zeiten, in denen Billig-Brot-Läden wie Pilze aus dem Boden schießen. Läden, in den ein Kilogramm Industriebrot 1,80 Euro kostet.

"Da wird man auch satt von", sagt Peter Becker, aber man sieht ihm an, dass ihm dieser Trend Kopfschmerzen bereitet, weil er das Bäckerhandwerk beschädigt. Ein gutes Brot veranschlagt Becker bei einem Preis "um die drei Euro" pro Kilogramm. "Davon esse ich die ganze Woche. Wenn ich ein Würstchen auf dem Dom kaufe, kostet es dasselbe." Becker holt tief Luft. "Also unterhalten wir uns über emotionale Beträge."

Kein Wunder in einem Land, in dem Brot bis weit in die Fünfzigerjahre hinein das entscheidende Grundlebensmittel gewesen ist, und in dem man das Brot vor 60 Jahren noch mit Kreuzen versehen hat. Aus Dankbarkeit dafür, dass man es hatte. Und tatsächlich ist die einschlägige Brot-Lektüre ja vor dem Wirtschaftswunder entstanden. Wolfgang Borcherts Kurzgeschichte "Das Brot" datiert aus dem Jahr 1946, Johannes Mario Simmel veröffentlichte seinen Roman "Das geheime Brot" 1950, Heinrich Böll seine berühmte Erzählung "Das Brot der frühen Jahre" fünf Jahre später. Bis dahin war Brot der Seismograf für Armut und Leid, und nicht von ungefähr nannten die evangelischen Landes- und Freikirchen ihre 1959 gegründete Hilfsaktion "Brot für die Welt".

"Brot ist der Erde Frucht, doch ist's vom Licht gesegnet", heißt es bei Friedrich Hölderlin. Und dass ausgerechnet Deutschland zum berühmten Brotland geworden ist und nicht Ägypten, wo man, wie die Archäologen sagen, schon vor 5000 Jahren Brot aus Sauerteig gebacken hat, liegt tatsächlich an den klimatisch außerordentlich günstigen Bedingungen: Wer gutes Brot backen will, braucht dazu nämlich vor allem gutes Getreide und gutes Wasser. Die schier endlose Vielfalt verdankt sich der geografischen Lage: Von allen, die hier im Laufe der Jahrhunderte durchwanderten, übernahmen unsere Vorfahren Kniffe und Rezepturen (in England waren offenbar nur Toast-Freaks unterwegs ...).

Gutes Brot schimmelt übrigens nicht, wenn man es richtig aufbewahrt. Also in einem Brottopf oder Brotkasten. Auf gar keinen Fall im Kühlschrank, denn wenn man es da wieder herausholt, schmeckt es fade und altbacken. Ein Reinheitsgebot in Sachen Brot gibt es nicht. "Ist auch nicht nötig", sagt Peter Becker, "weil alle Zutaten lebensmitteltechnisch einwandfrei sind." Auch gegen Vormischungen hat er generell nichts einzuwenden. Zum Beispiel, wenn er in seiner eigenen Bäckerei Saatenbrot backt. "Da wäre es ein immenser Aufwand, für dreißig Brote zehn verschiedene Saaten abzuwiegen, vorzurösten und zu mischen." Entscheidend sei ohnehin die Zeitschiene. "Also: Wie lange lasse ich den Teig ruhen? Wie heiß backe ich an? Wie lange backe ich?" Angesichts dieser Parameter sei die Vormischung "Peanuts". Aha. Gutes Brot halte übrigens vier Wochen. Vorausgesetzt, es sei aus gutem dunklem Sauerteig gemacht, Teigfestigkeit und Backzeit hätten gestimmt. Poröses Brot setze deshalb schneller Schimmel an, weil es den Pilzen mehr Angriffsfläche biete.

Apropos Angriffsfläche: Viele deutsche Küchen sind ja nicht nur mit Batterien von Eierkochern, Reiskochern, Woks, Sandwichmakern und Pfännchenraclettes verstopft, sondern auch mit Brotbackautomaten. Den Prototyp sollen die Japaner in den Achtzigerjahren erfunden haben. Ausgerechnet. (Kein Brotesser würde freiwillig japanisches Anpan essen, ein Weißbrot, das mit einer süßen violetten Bohnenpaste gefüllt ist.) Aber die Japaner müssen sich gedacht haben: Wenn die Deutschen so wild auf Brot sind, müsste man ihnen so etwas doch unterjubeln können. Herzlichen Glückwunsch, das hat geklappt. Selbst Ole von Beust soll ja einen besitzen. Den er nicht mehr benutzt. Sagt Peter Becker. Als gute Brotbäcker gelten neben den Europäern übrigens die Südamerikaner und, überraschenderweise, die Iraner. Die kommen regelmäßig nach Deutschland, um in Weinheim an der Akademie Deutsches Bäckerhandwerk ihr Handwerk zu verfeinern.

Es gibt deutsche Meisterschaften für Bäckergesellen und Europameisterschaften. Es gibt 44 000 Bäckerläden, die von 14 500 Bäckereien betrieben werden. Und es gibt schon länger Nachwuchssorgen, die sich jetzt noch einmal verstärken, weil viele Betriebe zur Übernahme anstehen. Bäcker sei ein toller Beruf, sagt Becker, das wüssten die meisten Jugendlichen nur nicht. "Die Ausbildung ist technisch anspruchsvoll, es macht Freude, im Team zu arbeiten, und selbstständig machen kann man sich auch." Bleiben die Arbeitszeiten. Mitten in der Nacht aufzustehen ist schließlich nicht jedermanns Sache, oder? "Ja", muss Becker zugeben, "das ist auf den ersten Blick speziell. Es gibt Leute, die können es, und Leute, die es nicht können."

Brotmuseen gibt es Deutschland natürlich auch. Das bedeutendste befindet sich in Ulm. Gegründet wurde es 1955 von Willy Eiselen, der vor dem Krieg eine Malzfabrik in Ulm gekauft hatte, die auch Backmittel herstellte. Inzwischen nennt es sich allerdings nicht mehr "Deutsches Brotmuseum Ulm", sondern "Museum der Brotkultur". Der neue Name, heißt es, solle verdeutlichen, dass man besonderes Gewicht darauf lege, "das Brot umfassend in seinen historischen, kunst- und kulturgeschichtlichen, handwerklichen, sozialpolitischen und technikgeschichtlichen Zusammenhängen zu zeigen". Auch daran kann man ablesen, dass sich die Zeiten geändert haben. Eiselen beendete seine Eröffnungsrede damals noch mit der dramatischen Bemerkung: "Es ist immer das Brot, das das letzte Wort hat."

Dieser Satz hat bei uns seinen existenziellen Unterton verloren. Gefühlt stimmt er immer noch.