“Rücksichtslos wie das Leben“: Regisseur Dresen über seinen neuen berührenden Film, der sich ungewöhnlich offen mit dem Tod auseinandersetzt.

Andreas Dresen hat schon viele mutige und eindringliche Filme gedreht. Um Sex im Alter ging es in "Wolke 9", um vertuschten Alkoholismus in "Sommer vorm Balkon", um das Leben in einer Plattenbausiedlung in "Halbe Treppe". Sein neues Werk "Halt auf freier Strecke", das heute in die Kinos kommt, setzt sich ungewöhnlich offen und hellsichtig mit dem Thema Tod auseinander. Milan Peschel spielt darin einen jungen Familienvater, der erfährt, dass er an einem Hirntumor erkrankt ist und nur noch wenige Wochen zu leben hat. Für das Drama gewann der Regisseur schon Preise in Cannes, Hamburg und Biberach und ist für den Europäischen Filmpreis nominiert.

Hamburger Abendblatt: Sie stoßen die Zuschauer mit der Anfangsszene, in der Hauptdarsteller Milan Peschel von einem Arzt die todbringende Diagnose erfährt, mitten hinein ins Thema. Das ist wuchtig, war aber anders geplant, denn diese Szene sollte gar nicht in den Film.

Andreas Dresen: Eigentlich habe ich sie nur gedreht, weil ich dachte, die Schauspieler brauchen das für ihr Gefühl. Ich habe den Arzt, der in dieser Szene die Diagnose stellt, erst am Tag vorher kennengelernt und fand ihn sehr beeindruckend. Die Schauspieler sahen ihn vor der laufenden Kamera zum ersten Mal. Als dann das Gespräch abrollte, in einem Raum, wo solche Gespräche drei-, viermal pro Woche stattfinden, war es ein ungeheuerlicher Vorgang. So etwas hatte ich noch nie gesehen und es mir so auch nicht vorgestellt. Er hat viele Pausen gemacht, um den beiden Raum zu geben. Es war eine unfassbare Mischung aus Sachlichkeit und Empathie. Das Gespräch hat 45 Minuten gedauert, im Film dauert es noch acht Minuten. Das ist für eine Filmszene extrem lang. Ich konnte sie nicht in eine rhythmisch gebaute Erzählung stellen. Also musste sie unser Aufschlag werden. Der Film beginnt unvermittelt und sofort - so, wie eben auch ein Schicksalsschlag in ein Leben fährt. Rücksichtslos.

Es ist zugleich eine der Szenen, in der Fiktion und Realität auf atemberaubende Weise aneinandergeraten.

Dresen: Der Arzt sagte mir im Vorgespräch: "Ob Sie es mir glauben oder nicht: Dies ist kein Ort großer Emotionen. Hier fließen selten Tränen." Das habe ich den Schauspielern gesagt. Ich wollte nicht, dass sie denken, sie müssen da ganz große Dinge spielen. Mir hätte es auch schon gereicht, wenn sie einfach nur zugehört hätten. Außer Milan Peschel, Steffi Kühnert und dem Arzt waren nur noch der Kameramann und ich im Raum. Ich habe den Ton geangelt, konnte mich dabei aber nicht gegen meine Tränen wehren. Steffi ging es ähnlich, auch wenn sie ihre Tränen weggekämpft hat. Sie ließ es nicht in ihr Spiel hinein. Es war ein Gänsehautmoment. Der Arzt hat in dieser Szene gesagt: "Wir wissen nicht, wie so eine Krankheit entsteht. Der eine bekommt einen Herzinfarkt, der andere dieses. Das ist, wenn man so will, Schicksal." Das fand ich so wichtig, dass wir es vor den Haupttitel geschnitten haben. Wir versuchen ja immer für alles Begründungen zu finden. Aber für manche Dinge gibt es einfach keine.

Milan Peschel hat auf die Frage geantwortet, ob er oft an den Tod denkt: "Nicht zu viel, sonst kann ich nicht leben."

Dresen: Natürlich braucht man einen natürlichen Pragmatismus, aber man sollte die dunklen Seiten nicht ständig ausschließen. Man verschiebt so viele Dinge auf morgen. Dabei weiß man doch gar nicht, ob man jetzt auf der halben Strecke ist, bei drei Viertel oder noch weiter. Das Leben ist eben endlich.

Verdient der Tod mehr Respekt?

Dresen: Respekt braucht vor allem das Leben, brauchen die Menschen. Viel Familiäres ist in den vergangenen Jahrzehnten ausgelagert worden. Kinderbetreuung, die Pflege der Alten und der Tod werden gern Institutionen überlassen. Dadurch entfremden wir uns immer mehr davon, und die Ängste wachsen. Früher saß das Kind mit am Bett, wenn Opa gestorben ist. Man konnte ihn danach noch anfassen, er lag vielleicht die ganze Nacht da. Da wusste man, so sieht das aus, das passiert mit uns, davor muss man keinen schützen. Aber schlimm ist es immer. Aber wenn man es in sein Leben hineinlässt, ist es einfacher, damit umzugehen.

Warum nehmen gerade Sie dieses unausweichliche Thema so unter die Lupe?

Dresen: Nirgendwo wird so viel und opulent gestorben wie auf den Leinwänden, sie sind gepflastert mit Leichen. Aber der Tod ereignet sich dort oft auf eine höchst oberflächliche Art, ohne dass es einen irgendetwas angeht. Dabei ist das Kino doch der Ort für so existenzielle Themen und die wesentlichen Dinge des Lebens. Dieser Film kam zu mir und wollte gemacht werden. Ich hatte eine Grundierung von Trauer und Verlust, weil gerade eine Beziehung kaputtgegangen war, die mir viel bedeutete. In meinem Freundeskreis tauchten gerade viele Geschichten vom Sterben auf. Und ich bin auch schon fast 50. Die Einschläge kommen näher.

Es gibt mehrere Momente, in denen der Film die Ebene des Realismus verlässt. Der Tumor ist sogar als von Torsten Merten gespielter Charakter zu Gast in der Harald-Schmidt-Show zu sehen.

Dresen: Ich wollte den Film aufmachen. Na klar ist das ein schweres Thema, aber ich wollte, dass man auch mal lachen kann, dass man sich mal vom Druck befreit. Das ging uns beim Drehen genauso.

Sie stehen großen Festivals, besonders dem Glamour kritisch gegenüber. Und doch haben Sie mit diesem schwierigen Film einen großen Erfolg in Cannes erzielt. Wie haben Sie das erlebt?

Dresen: Der Film war erst zwei Tage vor der Vorführung in Cannes fertig. Ich habe ihn dort zum ersten Mal am Stück gesehen, es war alles sehr knapp. Ich war vor Aufregung fast taub. Erst in der Nachmittagsvorstellung konnte ich mich ein bisschen fallenlassen. Es war wunderschön, weil das Publikum ganz stark emotional reagiert hat. Es war mucksmäuschenstill in diesem Riesensaal. Trotzdem wurde auch an den richtigen Stellen gelacht. Am Schluss kamen so viele Menschen, haben geweint oder mich umarmt. Das fand ich ganz wunderbar, denn für mich gibt es nichts Schlimmeres, als wenn ein Film einen gleichgültig lässt. Ich will im Kino lachen und weinen.