Die Bilderhöhle war über 22 000 Jahre verschlossen wie eine Kapsel - ein Forschungsjuwel. Wie es darin aussieht, zeigt ein Kinofilm.

Es ist ein kalter und schöner Dezembertag. Kurz vor drei Uhr nachmittags haben die drei jungen Höhlenforscher Glück: Sie finden in der Kalksteinwand in Nähe der Ardèche einen Spalt. Der Höhleneingang ist uninteressant. Erst weiter hinten öffnen weggeräumte Steine den Zugang zu einer weiten Halle. Jean-Marie Chauvet, Eliette Brunel und Christian Hillaire erkennen im Licht ihrer Stirnlampen Tausende funkelnder Kalzitkristalle, am Boden Bärenknochen und Bären-Schlafgruben. Und dann entdeckt Eliette auf einem Felsvorsprung ein kleines rotes Mammut. Ein paar Meter weiter einen riesigen roten Bären, dann Bildfriese mit Dutzenden gemalter Urtiere. "Während dieser Momente schnürt uns die Aufregung die Kehle zu", schreibt Chauvet später. "Die Zeit ist an diesem Ort scheinbar spurlos vorbeigegangen."

Die Entdeckung der nach Chauvet benannten Höhle am 18. und 19. Dezember 1994 war für Archäologen eine Sensation: Im Gürtel der altsteinzeitlichen Bilderhöhlen von Nordspanien über die Pyrenäen nach Südfrankreich ist sie mit mehr als 8000 Quadratmetern die größte. Einige ihrer 447 Tierdarstellungen sind zwischen 32 000 und 30 000 Jahre alt und damit die bisher ältesten in Europa. Die berühmten Tierfriese in Lascaux (Dordogne), Altamira (Kantabrien) und Niaux (Pyrenäen) sind nur etwa halb so alt.

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"Mich hat immer alles interessiert, was mit Paläontologie zu tun hat"

Wegen ihres spezifischen Mikroklimas ist die Grotte heute mit Eisentüren und Überwachungskameras fast so abgeschirmt wie Fort Knox. Selbst das Forscherteam aus zwölf Paläontologen, Archäologen, Paläobiologen, Geologen und Kunsthistorikern darf nur zweimal 15 Tage im Jahr und dann nur stundenweise darin arbeiten. Keinesfalls sollen die Bilder durch Schmutz und menschlichen Atem von Pilzen befallen werden, wie es in Lascaux geschah.

Für Besucher bleibt Chauvet also geschlossen - aber nicht unsichtbar: Mit einer Sondergenehmigung durfte der Regisseur Werner Herzog seinen Dokumentarfilm "Die Höhle der vergessenen Träume" in Chauvet drehen, wenige Tage lang, nur in Schutzkleidung, mit Handkameras und Kaltlichtlampen. Es ist ein Film über das Staunen, eine Hommage an die menschliche Kreativität schon in der Urzeit. Man tauche hier "in Träume ein", sagt Herzog, "in die festgefrorenen Träume einer tiefen Vergangenheit, die wir nicht voll begreifen können".

Rainer Maria Weiss, Direktor des Archäologischen Museums Hamburg, hält Chauvet für ein Juwel, das in den nächsten Jahren noch unschätzbare Erkenntnisse liefern wird. Vor rund 22 000 Jahren wurde der ursprüngliche Höhleneingang durch einen Felssturz verschüttet. Damit blieben Malereien, Knochen, Skelettreste und die wunderschönen Versinterungen der Höhle bis zu ihrer Entdeckung wie in einer Zeitkapsel bewahrt - unberührt und fälschungssicher. Chauvet präsentiert sich der modernen Menschheit fast genauso wie ihren letzten eiszeitlichen Nutzern. "Ich hätte nie geglaubt, dass so ein Fund noch möglich wäre", sagt Weiss.

Was den drei Entdeckern der Grotte sofort auffiel, waren die vielen Bärenknochen und -schädel, die Tatzenspuren auf dem Boden und die Schlafkuhlen, in denen die Höhlenbären ihren Winterschlaf hielten. Chauvet wurde über etwa 10 000 Jahre von Menschen und Bären genutzt - wenn auch wohl nicht gleichzeitig. Eine Wohnhöhle war Chauvet aber nicht. Der übliche prähistorische Zivilisationsmüll - abgenagte Knochen, Feuerherde, Reste primitver Werkzeuge - fehlt. Offenbar unterschieden die eiszeitlichen Nomaden zwischen ihren Bilderhöhlen und den Jagdlagern, die sie im Gefolge der Wildherden immer wieder aufsuchten.

Keine 800 Meter vom Höhleneingang überspannt ein Felsbogen die Ardèche wie eine natürliche Brücke, der Pont d'Arc. Auf der großen Kiesbank darunter landen heute im Sommer Tausende von Touristen mit Paddelbooten, um zu picknicken. Vor 30 000 Jahren rasteten hier vorbeiziehende Wildherden, ihre Jäger - und Raubtiere. In Chauvet jedenfalls sind neben Pferd, Wisent und Hirsch ungewöhnlich viele "gefährliche" Tiere dargestellt, vor allem Löwen und Bären, und einige, die in Höhlenmalereien der Region noch nie auftauchten: Nashörner, Hyänen, ein Panther und ein Uhu.

Die Künstler, die sie über 10 000 Jahre lang auf den Felswänden verewigten, benutzten die bekannte prähistorische Farbpalette: Holzkohle für Schwarz, Eisenoxid für Ocker- und Rottöne. Ein laufendes Wisent ist mit acht Beinen dargestellt, um Bewegung anzuzeigen - wie es heute Comiczeichner tun. Mit großer Finesse hat ein Künstler Pferde- und Löwenköpfe konturiert und anschließend mit dem Finger Nüstern und Mäuler schattiert. Ein anderer hat mit einem einzigen präzisen Strich die Rückenlinie eines vier Meter langen Mammuts gezeichnet. Wie in Lascaux ist bei einigen Tierbildern der spezifische Strich eines einzelnen Könners erkennbar. 80 Fußspuren eines Jugendlichen wurden identifiziert, 26 000 Jahre alt, begleitet von den Pfotenabdrücken eines Hundes oder Wolfs.

Auf den Wänden aber fehlt der Mensch. Auf ihn weisen nur Handpositive (farbige Handabdrücke) und Handnegative (mit Farbpigmenten umsprühte Handumrisse) hin, außerdem rätselhafte Ritzzeichen. "Was sie bedeuten, werden wir nie erfahren", sagt Weiss. "Diese Kultur war viel zu weit weg von Schriftüberlieferungen." Die Menschen der Altsteinzeit sahen sich selbst nicht als Steuerer der Natur. Sie malten hier nicht ihre Beutetiere wie Jagdtrophäen auf den Fels. Was sie mit den bis zu 20 dargestellten Tierarten feierten, war die Vielfalt des Lebens selbst. So als wäre die Höhle der Uterus, aus dem das alles entsprang.

Tausend Kilometer entfernt in den Höhlen Süddeutschlands schnitzten Menschen zur gleichen Zeit kleine Venusfigürchen aus Mammutzähnen, Symbole der Fruchtbarkeit - aber sie malten keine Tiere. Beide Kunstformen entwickelten sich regional, sagt Weiß, und sie blieben es auch.

In der Sonderausstellung "Eiszeit in Hamburg" zeigt das Harburger Helms-Museum zurzeit dieselben Tierarten, die in Chauvet gemalt wurden: Höhlenbären, -löwen und -hyänen, Mammuts, Bisons, Riesenhirsche und Wollnashörner. Sie folgten vor 30 000 Jahren dem Lauf der Elbe, so wie ihre Artverwandten in Südfrankreich der Ardèche folgten, und ihre fossilen Reste werden heute aus den Sedimenten der Elbe geborgen. Auch die Cro-Magnon-Menschen, die damals in Südfrankreich wie in Norddeutschland umherzogen, unterschieden sich voneinander höchstens in der Art, wie sie Flintsteine zu Pfeilspitzen verarbeiteten. Im Süden bemalten sie Höhlen - im Norden nicht. "Es gab noch keine globalisierte Welt, in der alle das Gleiche tun und die gleichen Moden kennen", sagt Weiss.

Als "Sixtinische Kapelle der Altsteinzeit" wurde Chauvet bezeichnet. Was irreführend ist: Die Höhlenbilder entstanden über Jahrtausende, es gab kein einheitlich geplantes Bildprogramm - allerdings vereinzelte Michelangelos. Die kultische Bedeutung der Höhlen bleibt im Dunkel. Weder wurde hier ein "Bärenkult" zelebriert, noch gibt es Indizien, dass sämtliche Künstler malende Schamanen waren. Aber was sie hier vor 30 000 Jahren überliefert haben, sind Kathedralen des menschlichen Schönheitssinns.