Revolverhelden, Flintenweiber - Pete Dexters neuer Roman “Deadwood“ ist ein Western in Buchform, an dem man sich gern berauscht.

Hamburg. Am 15. Juli 1876 kommt der Treck endlich in Deadwood an: "Wild Bill" Hickok, Revolverheld und Trailführer, auf dem Kutschbock, sein Freund Charley Utter mit 36 Maultieren, drei Wagen mit Siedlern und 25 Wagen voller Huren. Hickok wird in dem Städtchen erkannt und begeistert begrüßt. Zwei Wochen hat der Treck von Cheyenne bis in die Black Hills in South Dakota gebraucht, zu diesem Außenposten mitten im Sioux-Gebiet. Deadwood, erst vor wenigen Monaten von Goldgräbern gegründet, ist damals eine einzige lange Straße voll knöchelhohem Matsch durch die Schlucht am Whitewood Creek, rechts und links Holzbuden, Zelte, Saloons, Läden und Bordelle, an den Hängen verkohlte Bäume. "Wie wirkt es auf dich?", fragt Wild Bill. "Wie aus der Bibel", antwortet Charley. "Welcher Teil der Bibel?", will Bill wissen. "Als Gott zornig wurde."

Es ist ein großes, wildes Panorama, das Pete Dexter im ersten Kapitel seines Romans "Deadwood" eröffnet und das er mit einem ebenso rauen Ensemble besiedelt. Die Stadt stinkt förmlich nach Gewalt, nach Blut, Gier und Gin. Aber Dexter hat seine Hauptfiguren gegen das Klischee besetzt. Inmitten all der gebrochenen Biografien, der Betrüger und Glücksritter, durchtriebenen Zuhälter und Gelegenheitsmörder wirkt Wild Bill - der immerhin selbst schon acht Männer erschossen hat - wie ein friedliebender, müder Vorruheständler, der einfach nur im Saloon sitzen und beim Poker gewinnen will. Deadwood sei "das letzte Camp", sagt er ahnungsvoll zu Charley. "Hier wartet etwas auf uns."

Was da wartet und kurze Zeit später passiert, wissen Western-Fans längst: Hickoks Ermordung beim Poker, sein Heldenbegräbnis als Massenauflauf, der Mord an der chinesischen Prostituierten China Doll, eine Pockenepidemie und das Feuer, das den Ort 1878 zerstörte. Die Vorgänge in Deadwood gehören zum Nationalerbe der USA, die Geschichte wurde in so vielen Legenden beschrieben, so oft in Filmen und TV-Serien verewigt, dass die heutige 1400-Einwohner-Gemeinde von der touristenträchtigen Historie gut leben kann.

Die an sich schon romanhaften Biografien von Wild Bill, Sheriff Seth Bullock und Calamity Jane hat Dexter nach genauen Recherchen in einen wunderbar dichten Roman eingearbeitet, dessen Figuren in ihrem Überlebenswillen so abgedreht und dabei so plausibel wirken wie bei John Irving oder T.C. Boyle. Im wirklichen Leben war Wild Bill damals trotz seiner 39 Jahre schon ein vom Leben und vom Alkohol gezeichneter Mann, der pleite war und deshalb ohne seine frischgebackene Ehefrau, die Zirkusakrobatin Agnes Lake, nach Deadwood kam. Im Buch laboriert er an einem unheilbaren Prostataleiden, das er mit Quecksilber bekämpft. Charley Utter, im Roman Hickoks besonnener und lakonischer Freund, war tatsächlich ein geschäftstüchtiger Pferdehändler. Überliefert ist, dass er als Einziger in Deadwood täglich das Badehaus aufsuchte und einen eigenen Rasierspiegel besaß. Der Zuhälter Al Swearingen, im Roman die Ausgeburt der Feigheit, besaß tatsächlich Deadwoods "Gem Variety Theatre", den größten Puff am Platze.

Ein Denkmal setzt Pete Dexter auch der Western-Legende "Calamity Jane" Cannary, die in Kinofilmen bisher unter anderem von Doris Day, Anjelica Huston oder Ellen Barkin gespielt wurde. Auf alten Fotos trägt sie Hosen, schwere Ledermäntel und riesige Repetiergewehre und sieht Jahrzehnte älter aus, als sie war. Im Buch betätigt sich die Rodeoreiterin und Fährtensucherin auch als fähige Krankenpflegerin während der Pockenepidemie, was historisch belegt ist. Für Charley Utter riecht sie trotzdem "wie eine tote Katze". Dexter lässt hinter ihrer draufgängerischen Fassade die Einsamkeit fühlbar werden, die eine Frau in diesem rohen Männerumfeld wohl unvermeidlich spürte.

Vielleicht war es ein Wunschtraum, dass Calamity Jane ("Katastrophen-Johanna") nach Hickoks Tod behauptete, er sei ihr Ehemann und Vater ihrer Tochter gewesen. Als sie 1903 alkoholkrank und völlig heruntergekommen mit 51 Jahren in der Nähe von Deadwood starb, wurde sie neben ihm begraben. Von ihr blieb nur ein Stapel Briefe an ihre Tochter. Briefe über ihr hartes Leben, die nie abgeschickt wurden.

Pete Dexter, der schon mit dem National Book Award und 2007 mit dem Deutschen Krimi-Preis (für "Train") ausgezeichnet wurde, ist das grandiose Zeitporträt eines Ortes gelungen, der außerhalb der zivilisierten Welt und ihrer Regeln lag, der wie ein Labor menschlicher Verhaltensweisen wirkt. Ein Western, an dem man sich gerne berauscht. Und in dem der entscheidende Showdown des Romans nicht zwischen Männern, sondern zwei wehrhaften Frauen stattfindet: beim Zusammentreffen von Hickoks wahrer Witwe Agnes Lake und Calamity Jane. Natürlich mit einem überraschenden Ergebnis.

Pete Dexter, "Deadwood". Aus dem Englischen von Jürgen Bürger und Kathrin Bielfeld, Liebeskind, 448 S., 22 Euro