Sein Leben lang wollte Steven Spielberg Hergés Comic-Abenteuer ins Kino bringen. Nun ist ihm ein Film gelungen, der so schön ist wie die Vorlage.

Ein Hund braucht eine Aufgabe. Und kaum ein Hund ist so ausgelastet wie Struppi: Er bringt Feinde zu Fall, lenkt bissige Köter ab, erschnüffelt Hinterhalte, apportiert Waffen. Struppi ist katastrophensicher, angriffslustig, sogar trinkfest. Und kosmopolitisch: Auf Englisch heißt er Snowy, auf Französisch Milou, auf Isländisch Tobbi, auf Afrikaans Spokie. Seit er 1929 das Universum der Comicstrips betrat und "Tim im Lande der Sowjets" begleitete, ist Struppi weltweit ein Held.

Und heute, 82 Jahre später, wird er völlig ungealtert zum Kinohelden: Seine Wiedergeburt in "Tim und Struppi - das Geheimnis der ,Einhorn'" hätte famoser nicht ausfallen können. Sein Fell wirkt auf der Kinoleinwand so flauschig, dass man hineinfassen möchte, er jagt Verdächtige in Terrier-Speed, und seine Ohren erzählen, was er denkt - genauso, wie man ihn im Comic kennt, aber jetzt in 3-D.

Damit hat ein europäischer Exportschlager schließlich doch noch Hollywood erobert. Entstanden ist er in einem Land, das gemeinhin für Pommes, Patisserie und Autobahnen bekannt ist, vom sterbensschönen Brügge mal abgesehen: Belgien. Tintin et Milou , in Deutschland Tim und Struppi, sind zutiefst europäische Figuren, auch wenn sie um die Welt reisen. Der 1907 geborene Zeichner Georges Remi, Künstlername Hergé, gab ihnen das freundlich-pfadfinderhafte Gepräge mit, das seine eigene Jugend im konservativ-klerikalen Milieu in Brüssel bestimmte. Seine allerersten Zeichnungen veröffentlichte er mit 16 denn auch in einem Pfadfindermagazin. Die Bildergeschichten von Tintin et Milou erschienen sechs Jahre später zuerst in der Jugendbeilage einer katholischen Tageszeitung.

Inzwischen hat Tim, der neugierige Reporter mit der blonden Stirntolle, seine Nase in alle möglichen Geheimnisse gesteckt. Ein mutiges Kerlchen, fasziniert von Flugzeugen, U-Booten und Raumfahrzeugen, aber umgeben von lauter skurrilen Mitstreitern: dem ständig fluchenden Kapitän Haddock - "hunderttausend heulende Höllenhunde!" -, in dessen Adern Whisky und Kerosin zu fließen scheinen; dem genialen Professor Bienlein, dessen Schwerhörigkeit dauernd zu Pannen führt; und die kreuzdämlich-beflissenen Geheimagenten Schulze und Schultze (französisch: Dupond et Dupont , englisch: Thomson and Thompson ).

Tim und Struppi seien "die einzig Normalen in einer Welt voller Intriganten, Trunkenbolde, Exzentriker und Vollidioten", befindet das US-Magazin "Time". Sie lassen sich nicht auf schräge Deals ein, schwitzen vor Eifer, sind umschwirrt von Pan Pan! und Peng Peng. Aber anders als die amerikanischen Superhelden, die mit Spinnennetzen und Fledermauskostümen in Großstädten wirken, zieht es Herrchen und Hund in Regionen der Erde, die für Europäer vor 80 oder 60 Jahren noch gefährlich waren: den Kongo, die böse Sowjetunion, das verschneite Tibet, die Sahara. Oder sogar auf den Mond. Tim ist der ideale Mix aus "Indiana Jones" und "In 80 Tagen um die Welt".

+++ Tims deutscher Start im Abendblatt +++

Dass sich die Filmrechte an diesem Stoff nun zwei Großnasen des Animationsfilms sicherten, ist kein Zufall: Der Amerikaner Steven Spielberg, 64, und der Neuseeländer Peter Jackson, 49, gehören zu den Generationen, die noch mit Tintin-Comics aufgewachsen sind. In ihren Jugendjahren waren Hergés Bildergeschichten schon ein Welterfolg. Sie wurden in 60 Sprachen übersetzt, die Bücher bis heute 250 Millionen Mal verkauft. Hergés Comics seien "einfach Kult, buchstäblich ein Teil der Popkultur des 20. Jahrhunderts", sagt Jackson. Er habe als Junge in Neuseeland "jeden einzelnen Band, den ich in die Hände bekam, verschlungen" und sich sogar durch die französischen Ausgaben gekämpft, wenn englischsprachige noch nicht zu haben waren.

Auch Spielberg war schon als Jugendlicher davon fasziniert, wie er beteuert. Die Comics hätten auf ihn gewirkt "wie ein Film mit wunderbar ausgearbeiteten Storyboards". Anfang 1983 nahm Spielberg zu dem damals 75-jährigen Hergé Kontakt auf, um über die Filmrechte zu sprechen, aber noch bevor sie sich persönlich trafen, starb Hergé im März 1983. Aber selbst nachdem Hergés Witwe und Nachlassverwalterin Fanny Rodwell zugestimmt hatte, dauerte es noch rund 20 Jahre, bis das Filmprojekt konkrete Formen annahm. Spielberg war sich nicht sicher, in welchem visuellen Stil er die Zeichnungen umsetzen wollte.

Erst 2003 sei ihm bei Robert Zemeckis' "Polar Express" blitzartig eine Möglichkeit aufgegangen, sagt Spielberg heute. Zemeckis setzte dabei die neue "Motion Capture"-Technik ein, die von der neuseeländischen Firma Weta Digital schon für das Wesen Gollum in "Herr der Ringe" verwendet worden war: Ein Schauspieler wird zuerst real gefilmt, seine Bewegungen, Mimik und Gestik danach auf die digitale Figur übertragen. Die ersten "Machbarkeitsstudien" bei Weta, bei denen vor allem die Interaktion zwischen dem komplett computeranimierten Struppi und seinen menschlichen Bezugspersonen getestet wurde, fand Spielberg so überzeugend, dass er Jackson als Produzenten mit ins Boot holte.

+++ "Die Abenteuer von Tim und Struppi": Auf Schatzsuche +++

Beim Casting für die Rolle von Tim fiel die Wahl auf den Briten Jamie Bell, der schon in "Billy Elliott" mit seiner jungenhaften Plötzlichkeit überzeugt hatte. Der "Gollum"-Darsteller Andy Serkis schlüpfte in die Rolle des mal impulsiven, mal depressiven Kapitän Haddock. Bösewicht Iwan Iwanowitsch Sakharin wird schön verschlagen von James-Bond-Darsteller Daniel Craig gespielt. Das Drehbuch verarbeitet insgesamt drei Hergé-Abenteuer, außer "Das Geheimnis der ,Einhorn'" auch "Die Krabbe mit den goldenen Scheren" und "Der Schatz Rackhams des Roten".

Unter den inflationären Comic-Verfilmungen dieses Jahres ("Thor", "The Avengers", "Captain America", "X-Men First Class", "Green Lantern") ist "Tim und Struppi" die wohl komplizierteste. Denn jetzt begutachtet eine weltweite Fangemeinde von "Tintinologen" mit Argusaugen, ob Hergés liebevoll und detailreich ausgestaltetes Vorkriegs-Design in der Computerfilmwelt vorlagengetreu umgesetzt worden ist. Zur Beruhigung: Die Filmemacher haben es erstaunlich gut erhalten. "Unser Film sollte sich so retro und kantig anfühlen wie ein klassischer Krimi", sagt Jackson. Auf der anderen Seite wollte Spielberg die Ausstattung nicht zu exakt auf eine bestimmte Zeit festlegen. Im Ergebnis haben die Zimmereinrichtungen den Sepia-Charme der Dreißiger, die Apparate wirken altbacken, Telefone haben Wählscheiben. Handys, moderne Autos und Neonröhren mussten draußen bleiben. Natürlich ist es im Vergleich zu den Comics gewöhnungsbedürftig, dass die Figuren im Film so plastisch wie reale Menschen in der Wüste stehen oder in einem Propellerflugzeug in ein Gewitter fliegen. Die Oberfläche der Gesichter ist flaumig, aber nicht so verschwiemelt wie noch in "Polar Express".

Während Haddocks Knollennase und die einfältigen Gesichter der Schultzes genau getroffen sind, ähnelt Tims Physiognomie der Vorlage vielleicht am wenigsten: Er ist aus der flachen Zeichentrickfigur herausgetreten und buchstäblich eine Person geworden. In puncto Rasanz hat das Medium Film auf jeden Fall schlagende Vorteile: Tim wird erstmals zum wirklich rasenden Reporter - auf dem Wasser, zu Lande und in der Luft.

Der jahrzehntelange Erfolg dieser Kult-Figur beruht allerdings auf etwas anderem. Tim ist alterslos, unpolitisch, kein Rechthaber, sondern ein Jedermann mit Courage. Einer wie Harry Potter, bloß ohne Eule, sondern mit Hund. Und einer, der in allen 24 Hergé-Bänden ohne Frauen auskommt. Liebesgeschichten irritieren und lenken ab. Gerade ihr Fehlen scheint es den Fans zu erleichtern - übrigens auch vielen weiblichen -, sich ganz auf die Abenteuer einzulassen und mit Tim zu identifizieren. Für Jamie Bell, auch seit Kindesbeinen ein Hergé-Fan, ist Tim "eine getriebene, sehr moralische Figur", wie er sagt. "Er will den Dingen auf den Grund gehen, egal wie groß der Widerstand auch sein mag. Aber manchmal liegt er auch falsch, und dann muss er einfach Struppi vertrauen."

Ohne Struppi bliebe die Weltordnung eben einfach unvollendet.