Auf ihrem Album “Ilo Veyou“ - “I love you“ wäre ja auch zu leicht gewesen - erweist sich die Französin Camille als eine grandiose Vokal-Extremistin.

Hätte der Wahnwitz eine Stimme, so würde er den Namen Camille tragen. Die Pariserin kann nicht nur singen, gelegentlich miaut sie wie eine Katze, tiriliert wie ein Kanarienvogel, faucht, grunzt oder gurrt. Ihre Konzerte hält sie am liebsten ganz ohne Mikrofon ab. Camille ist eine Geschichtenerzählerin, die die Atmosphäre des klassischen Chansons mit hintersinnigen Ritualen verquickt. Mit einem Körper, den sie als Perkussionsinstrument nutzt, oder mit Gesängen, die aus tiefster Kehle grummeln. Und das verbunden mit einer feinen Jazzband.

Auf ihrem neuen Werk "Ilo Veyou" beginnt das Experiment schon im Titel. "I Love You" zu sagen wäre ja auch zu einfach gewesen. Das Popthema Nummer eins, die Liebe, wird hier höchst individuell durchdekliniert. Da beschwört Camille die Großartigkeit des Planeten und das Wunder, Leben zu spenden, im Opener "Aujourd'hui". "Man begreift, dass das Jetzt, jeder einzelne Moment, das Einzige ist, dessen man sicher sein kann", sagt sie.

Derlei anthropologische Ernsthaftigkeit steht neben feinster Ironie. Etwa wenn sie den Gesangsstil der französischen Hyper-Ikone Edith Piaf im pseudopatriotischen "La France" persifliert. Dabei findet sie es wichtig, die eigenen Wurzeln zu kennen. Gerade jetzt, wo in jeder Stadt die gleichen Einkaufszentren stünden. Musikalisch ist das Ganze sehr pur, sehr akustisch zart zwischen Jazzrhythmen und Folk angelegt. Ohne überflüssigen Weichspüler. Frei von jeder Gefallsucht. Aber schön anzuhören.

Das Tolle an Camille ist, dass sie damit enorm erfolgreich ist. Ausverkaufte Konzerte pflastern den Weg des Stimmwunders. Eigensinn siegt gegen Konformismus. Der spezielle Humor der Camille Dalmais, er kommt besonders gut zur Geltung, wenn sie mit anderen Frauen in "Le Banquet" genüsslich einen Ex-Liebhaber verspeist. "Darüber lachen vor allem die Frauen. Die Männer eher weniger", räumt sie ein. "Der Song handelt von einer Rache in aller Sanftheit. Sehr weiblich." Natürlich habe sie beim Schreiben des Songs an jemand Bestimmten gedacht. Der fühlte sich allerdings nicht angesprochen. Dafür fragten andere nach.

Alle Songs auf "Ilo Veyou" hat Camille in außergewöhnlichen Räumen live eingespielt. Von der Balletthalle bis zum Musikstudio mit Holzboden, drei ländlichen Kapellen oder einem ehrwürdigen Kloster in Noirlac. Räume sind für sie Instrumente. Wörter werden zu Klang-Trampolinen. "Ich habe erst viele Orte gesammelt und am Ende den behalten, der am besten mit dem jeweiligen Song korrespondiert", sagt sie. Das sei wie bei einem Live-Konzert. Da gebe es immer eine Antwort des Raumes, ein Zufallsmoment, ein Geräusch. "Ich mag es, wenn die Dinge nicht unter Kontrolle sind." Die Stimme ist auch beim Komponieren immer zuerst da. Und manchmal stören Instrumente nur. "Mich interessiert die Antwort des Kosmos auf die Stimme. Musik ist immer eine Reise in den menschlichen Körper", so Camille. Ihr Zugang zur Musik wirkt spirituell, dennoch bezeichnet sie sich als Atheistin.

Schon früh verfolgte die heute 33-Jährige ihren eigenen musikalischen Weg. In ihren Anfängen sang Camille für die Bossa-Nova-Combo Nouvelle Vague mit frechem Timbre den Dead-Kennedys-Song "Too Drunk Too Fuck" ein. Die Akademikertochter ist Absolventin des Institut d'Etudes Politiques in Paris, jener Kaderschmiede, die auch Sarkozy besucht hat. Doch statt in die Politik zu gehen, verarbeitete Camille ihre Abschlussarbeit 2002 zu ihrem Debütalbum "Le Sac Des Filles", das ebenso wie die Nachfolger "Le Fil" (2005) und "Music Hole" (2008) Kritik und Publikum begeisterte.

In einem der schönsten Songs, "Le Berger", schildert sie die Begegnung mit einem jungen Schafhirten. "Er führt ein anachronistisches Dasein. Abseits der Moderne lebt er einsam mit seinen Schafen. Ich mag die alten Künste, wo die Dinge anders laufen." So wie auch bei dieser Ausnahmesängerin in der Musik manches anders läuft als im Mainstream.

Camille: "Ilo Veyou" (EMI), bereits erschienen; www.camille-music.com