Die Bremer Kunsthalle zeigt Edvard Munch. Ausgangspunkt dafür ist die sensationelle Entdeckung eines unbekannten Gemäldes.

Bremen. Angesagt ist die Kunst von Edvard Munch ja sowieso. Aber vielleicht passt die aktuelle Krisenstimmung besonders gut zu den ebenso intensiven wie aufwühlenden Bildern dieses großen Expressionisten, für den menschliche Grenzsituationen ein zentrales Thema gewesen sind.

Seit Ende September ist im Pariser Centre Pompidou eine große Munch-Ausstellung zu sehen, die im Frühjahr von der Frankfurter Schirn-Kunsthalle übernommen wird. Und schon ab heute zeigt die Bremer Kunsthalle gleichfalls eine Ausstellung unter dem Titel "Edvard Munch - Rätsel hinter der Leinwand", die ihren Ausgangspunkt in einer sensationellen Bremer Entdeckung hat. Bereits auf den Werbeplakaten ist das Munch-Gemälde "Das Kind und der Tod" von 1899 zu sehen, das die Bremer Kunsthalle 1918 für 20.000 Mark gekauft hatte. Obwohl Munch damals schon als herausragender Künstler galt, war es das erste Gemälde, das ein deutsches Museum von ihm erwarb.

Als das Osloer Munch-Museum 2005 um Angaben für ein neues Werkverzeichnis bat, untersuchten Bremer Restauratoren das Bild intensiver und entdeckten dabei eine zweite Leinwand. Stützleinwände sind an sich nicht ungewöhnlich, eine Röntgenaufnahme enthüllte jedoch, dass sich darauf eine zweite Bildkomposition befand. Nachdem man mit größter Vorsicht die beiden Leinwände getrennt hatte, kam das bis dahin völlig unbekannte Ölgemälde "Mädchen und drei Männerköpfe" zum Vorschein - wodurch sich der Bremer Munch-Bestand auf glückliche Weise um satte 100 Prozent vergrößerte.

Aber warum hat Munch ein Bild hinter einem Bild versteckt? Hat er die Komposition verworfen? Auch Ausstellungskuratorin Dorothee Hansen kann dieses "Rätsel hinter der Leinwand" nicht lüften, aber sie hat einen begründeten Verdacht. An den Bildkanten sind zahlreiche Fingerabdrücke nachzuweisen, offenbar wurde das Gemälde häufig bewegt, was auf eine längerfristige Beschäftigung schließen lässt. Möglicherweise habe Munch die Leinwand später aus Materialnot unter das Kinderbild gespannt, vielleicht in der Absicht, sie später wieder hervorzuholen und durch einen unbearbeiteten Stoff zu ersetzen. "Es ist sicher kein neu entdecktes Meisterwerk, aber ein hochinteressantes Bild, das Einblicke in Munchs Arbeitsweise und Denkprozesse vermittelt. Man kommt sich vor, als würde man ihm beim Arbeiten zuschauen", sagt Kuratorin Jansen.

Das neu entdeckte Gemälde, das im Zeitraum zwischen 1895 und 1898 entstanden sein muss, zeigt auf der rechten Seite ein nacktes Mädchen auf einer Bank. Bedrohlich wirken drei große Männerköpfe, die aus einer pflanzenartigen, grünen Linie im Bildzentrum herauswachsen. Der rechte Kopf, der besonders lüstern erscheint, stellt wahrscheinlich den Dichter Gunnar Heiberg dar, der mittlere Munchs Malerfreund und Lehrer Christian Krohg und der linke ihn selbst. Die drei gehörten der Boheme von Kristiania, dem heutigen Oslo, an und konkurrierten um die Gunst junger Frauen, was zwangsläufig zu Eifersucht führte. Auf der linken Seite sind zwei Hände zu sehen, die begehrlich, vielleicht aber auch vergeblich nach dem jungen Mädchen greifen. Das Rätsel auf der Leinwand ist also ebenfalls groß, doch auch hier bieten sich zahlreiche Anhaltspunke zur Entschlüsselung. Lust und Angst, Bedrohung und Begierde, Liebe und Tod sind Motive, die im Werk Edvard Munchs immer wiederkehren.

Allerdings in sehr unterschiedlicher Ausprägung, wie die Ausstellung zeigt, die den einzelnen Bildmotiven nachspürt. So ist Munchs Frauenbild recht ambivalent. Auf dem wiederentdeckten Gemälde sieht man das junge Mädchen, das fast noch kindlich wirkt, seine Sexualität aber schon zu entdecken beginnt, zugleich aber verletzlich wirkt. Ganz anders in der 1895 entstandenen Kreidelithografie "Die Hände", auf der eine junge Frau ihren Körper provozierend selbstbewusst präsentiert. Von allen Seiten greifen Hände begehrlich nach ihr, ähnlich wie auf dem Bremer Bild. Und auch die maskenhaften Köpfe erscheinen mehrfach als Sinnbild der Eifersucht, zum Beispiel in dem 1893-96 entstandenen Ölbild "Eifersucht im Bad".

Einen eigenen Schwerpunkt bildet schließlich das eigentliche Bremer Bild "Das Kind und der Tod", das zu Munchs Hauptwerken gezählt werden kann. Das kleine Mädchen ist dem Betrachter zugewandt, in Hintergrund erkennt man das Sterbebett seiner Mutter. Es hält sich die Ohren zu, will die Wirklichkeit noch nicht an sich heranlassen, ist noch nicht in der Lage, Trauer zu empfinden.

Liebe und Tod, Unschuld und Begierde sind in Munchs Werk eng verbunden, wie diese Ausstellung zeigt, in der die neue Bremer Kunsthalle zugleich erstmals unter Beweis stellen kann, dass sich ihre erst im August fertiggestellte Architektur vorzüglich dazu eignet, große Kunst zu zeigen. Das ist Chance und Verpflichtung zugleich.

Bremer Kunsthalle, bis 26.2.2012, Di 10.00-21.00, Mi-So 10.00-18.00, www.munch-bremen.de