Mit “Das weite Land“ startet Martin Kusej als Chef des Münchner Residenztheaters. Seine Inszenierung kommt zum Hamburger Theaterfestival.

München. Gepflegtes Konversationstheater sieht man nicht mehr sehr oft auf deutschen Bühnen. Und von Martin Kusej, der als Profisportler und kraftvoller Südkärntner Bauernbub seit 20 Jahren die großen Bühnen - auch in Hamburg - mit schroffen, eisigen und leidenschaftlichen Regiearbeiten stürmt, hätte man es am allerwenigsten erwartet. Jenes elegische, elegante und ein bisschen weltferne Theaterspiel, das Peter Stein in seiner Spätphase an der Berliner Schaubühne pflegte. Ebenso Kusejs Vorgänger Dieter Dorn in München. Da sieht alles auf der Bühne schön aus, ist gefällig, aber auch ein bisschen langweilig. Doch wir haben uns inzwischen an so viel Dekonstruktion auf der Bühne gewöhnt, dass wir das klassische Theater bereits als viel zu zurückhaltend empfinden.

Martin Kusej, der bis vor Kurzem in Hamburg lebte und den die damalige Kultursenatorin Karin von Welck, trotz vielfacher Ratschläge, vor Jahren nicht zum Schauspielhaus-Intendanten berufen wollte, startet nun seine erste Saison als Intendant des Münchner Residenztheaters mit einer Inszenierung von Arthur Schnitzlers "Das weite Land".

Sein Ensemble aus Spitzenkräften ist mit 50 Schauspielern das größte in Deutschland. Drei Dutzend Premieren will er in diesem Jahr raushauen. Alle Achtung! In seinem "Weiten Land" stehen die Film- und Fernsehstars Tobias Moretti ("Kommissar Rex"), Juliane Köhler ("Aimee und Jaguar") und Eva Mattes ("Tatort") auf der Bühne. Vielleicht lastete da zu viel Verantwortung auf dem Hausherrn und seiner Eröffnungspremiere, die ja das Aushängeschild des Hauses werden sollte und die dann ziemlich brav und zahm und umrahmt von Lounge-Musik psychologisch-realistisch daherkam.

Aus ganz Deutschland und Österreich waren Theaterleute und solche die dazugehören, angereist. Man hatte den Eindruck, es saßen kaum "normale" Zuschauer im Parkett. Die Erwartungen waren riesig, und am Ende machte sich zwar keine Enttäuschung breit, aber der ganz große Wurf war dieses vornehm leise gesprochene "Weite Land" auch nicht. Es wurde freundlich applaudiert.

Schnitzlers Stück, vor genau 100 Jahren uraufgeführt und berstend vor Personal, das so oder ähnlich auch auf Freuds Couch lag, zeigt die Entfremdung des Glühlampenfabrikanten und notorischen Fremdgängers Friedrich Hofreiter von seiner Ehefrau Genia. Und die vergeblichen, verzweifelten, gelangweilten und gestörten Liebesbeziehungen aller anderen Wiener Großbürger der vergangenen Jahrhundertwende.

Frau Natter ist gerade einer Affäre mit Herrn Hofreiter entkommen. Herr Natter liebt einstweilen das Theater. Erna verliebt sich in Hofreiter, der ihr Vater sein könnte. Genia Hofreiter hat eine Affäre mit Otto, dem Sohn ihrer Freundin, Frau Meinhold. Die wiederum hat sich von ihrem Mann getrennt, weil er sie betrogen hat. Doktor Mauer liebt vergeblich Erna.

Ja, so kennen und lieben wir die Wiener Gesellschaft des Fin de Siècle. Nicht zuletzt, weil der Autor Schnitzler, selbst ein rast- und ruheloser Fremdgänger, sie uns in so perfekten tragikomischen Stücken vorgeführt hat. Man parliert, spielt Tennis, und am Ende sind zwei Menschen tot und etliche verwundet. Damit, dass Sport Mord ist, hat das allerdings nichts zu tun. Man leidet, mehr oder weniger, an der Liebe. An einer brüchig gewordenen Ordnung. Und natürlich sind all die Gefühle, die wahren und falschen Beteuerungen, das Fehlen von Vertrauen und Sicherheit, Stoff genug für großes Theater.

In Kusejs Inszenierung stehen die Akteure zuerst im Regen. Ein kalter Hauch weht ins Publikum. Später winden sich die Darsteller durch urwaldartige Schlingen, bewegen sich, frei zur genauen Betrachtung, auf der Vorderbühne in einem hölzernen Guckkasten - stets in geräumigem Abstand voneinander. Kurz klettert man gesichert an einer Felswand. Und bei einer BergPartie, auf der Hoteldirektor von Aigner den Titelgebenden, tiefenpsychologischen Satz: "Die Seele ist ein weites Land" äußert, steht man auf der Bühne natürlich in einer Trümmerlandschaft (Bühne: Martin Zehetgruber). Sehr bedeutungsschwer wirkt das alles.

Tobias Moretti gibt diesen Hofreiter, der ziellos stets in die Zukunft strebt, als ewig suchenden, gefühlskalten Mann. Nicht so sehr sein Alter und die Midlife-Krise machen ihm zu schaffen. Es ist eine allgemeine Unzufriedenheit, aus der heraus er seiner Frau den Vorwurf macht, ein junger Pianist habe Selbstmord begangen, weil Genia Hofreiter eine Affäre mit ihm verweigerte. Von der Standhaftigkeit und Untadeligkeit seiner Frau fühlt Hofreiter sich bedroht. Er wirkt leer; sie verhärmt und traurig. Und dabei müsste doch gerade Hofreiter ein wüster Kerl, ein böser Charmebolzen, ein ausgemachter Verführer sein, von dem niemand seine Augen abwenden kann - Typ Michel Piccoli oder Jack Nicholson.

Moretti ist zu nett, ein kleiner Fiesling, ein Bösnickel und Egoist, der sich hemmungslos kindisch ausleben will, in dem aber kein Feuer brennt. Liebt Hofreiter seine Frau noch? Will er sie locken, loswerden, anstacheln, ist sie ihm gleichgültig? Aus Morettis Spiel erfährt man es nicht. In der großen Begegnungsszene zwischen ihm und seiner Frau biegt er sie zwar nach hinten, als wolle er sie wie Clark Gable in "Vom Winde verweht" leidenschaftlich küssen. Dann hält er sie aber nur und spricht derweil ins Publikum. Erotik ist da gleich null. Und auch Juliane Köhlers Genia ist eher eine kühle, gekränkte Frau, als dass man ihr anmerkt, ob sie ihren Mann noch liebt oder die versäumte Affäre bedauert. Sie scheint geradezu Angst vor Gefühlen zu haben, verhält sich wie in Schockstarre.

Am Ende jedoch lässt sie sich von ihrem Mann in eine Liebschaft mit Otto treiben. Den Hofreiter dann im Duell erschießt, weil ihm aus dessen Augen "die Jugend so frech angeblitzt" habe.

Moretti ist zu jung, um einen Mann in der Alterskrise zu zeigen. Er und Köhler sind, obwohl historisch gekleidet (Kostüme: Heide Kastler) das typische moderne Paar von heute, das wie so viele Menschen daran leidet, zu viele Optionen zu haben. Wer alles kann und alles darf, der hat an nichts mehr Freude. der weiß nicht, was er will. Für den ist alles ein Spiel, ein sehr ermüdendes. Beide - und auch da entsprechen sie ganz dem Geist unserer Zeit - sind zu wenig Mann, zu wenig Frau. Da fehlt das große "Wow ...!", die Sinnlichkeit und Leidenschaft, gerade auch die, die erkaltet ist.

Jung, geradeheraus und frisch, wie eine Frau von heute spielte Britta Hammelstein ihre Erna, die sich am Ende ganz altmodisch dazu hinreißen lässt, Hofreiter anzubieten: "Ich folge dir. Ich gehöre dir." Worauf er eisig entgegnet: "Ich niemandem." So sieht Einsamkeit aus. Ernas Mutter spielt Barbara Melzl leicht hysterisch durchgeknallt. Ganz anders ist Frau Meinhold bei Eva Mattes. Sie, die selbstständige, konsequente Frau, von Beruf Schauspielerin, ist ehrlicher als alle anderen. Kennt ihre Rolle im Leben und lässt sich nicht beirren. Am Ende, als Hofreiter ihren Sohn Otto im Duell getötet hat, ist Frau Meinhold diejenige, die mit der größten Lüge bedacht wird.

August Zirner spielt ihren Ex-Mann, den Hoteldirektor Aigner, als schmauchenden Besserwisser. Katharina Pichler bringt als Adele Natter ein wenig wogende Sinnlichkeit ins kühle Gefühlschaos. Blass, sehr blass bleiben Bankier Natter (Gerhard Peilstein) und die jungen Männer Otto (Gunther Eckes), Stanzides (Shenja Lacher) und Paul (Thomas Gräßle).

Am Ende, wenn Hofreiter den Geliebten seiner Frau im Duell erschossen hat, setzt auf der Bühne wieder der Regen ein. Alles ist schwarz, nass. Doch ganz so bunt, wie dieser Kontrast andeuten soll, war's vorher nicht. Martin Kusej hat dann doch nur in Pastelltönen inszeniert.

"Das weite Land" , 22./23.10. Deutsches Schauspielhaus, jew. 19 Uhr, Karten von 16 bis 69 Euro unter www.hamburgertheaterfestival.de , erm. 12 Euro auch an der Theaterkasse