Das Thalia zeigt Goethes Meisterwerk in 8 1/2 Stunden komplett. Den Theatermarathon und seine Protagonisten beobachtete Joachim Mischke.

"Jedermann erwartet sich ein Fest."

Hamburg. Man macht ja gern mal was mit als Kultur-Begeisterter. Privat kann ich mich an Peter-Greenaway-Filmnächte während des Studiums in Münster erinnern. Dazu kamen Sitzfleisch-Härtetests wie die "Star Wars"-, "Matrix"- oder "Herr der Ringe"-Trilogien. Als Luk Perceval 1999 zwölf Stunden Shakespeare-"Schlachten" über die Schauspielhaus-Bühne toben ließ, war ich berufsbedingt ebenso dabei wie 2006 bei einem "Ring"-Wahnsinn in Köln. Alle vier Teile an einem Wochenende hintereinanderweg gab es dort, wir wurden nur kurz zum Essen und Schlafen vor die Tür gelassen; nach 16 Stunden Druckbeschallung war das Orchester auf der Felge, Brünnhilde im Eimer und das wagnerbesoffene Publikum außer sich vor Freude. Zwei Tage später ging's mir wieder halbwegs gut.

Nun also der nächste Feuilletonisten-Fleißstern: acht Stunden Goethe, "Faust I" und "Faust II". Rund 12 100 Verse, Goethe as Goethe can. Der Achttausender des deutschen Bildungsbürgertums will erklommen sein. Bevor die Sause im Thalia losgeht, gratulieren sich viele zum Ehrgeiz, freiwillig diese Überdosis Goethe zu riskieren. Sticheleien unter örtlichen Theater-Chefs à la "Dass Sie noch Zeit haben, ins Theater zu gehen ...". Radio-Reporter befragen Gäste, als wären wir in einem Himalaja-Basislager, kurz vor dem Aufbruch ohne Sauerstoff. Kameras filmen freudig-erregte Gesichter. Kulturbehörden-Personal kommt mit gut sichtbarer Aktentasche, soll zeigen: direkt vom Schreibtisch losgerissen. Hier gilt's der Kunst und ist auch Event, Sehen und Gesehenwerden sind im Preis inklusive.

Acht Stunden "Faust"?! Das klingt bedrohlicher, als es tatsächlich ist. Netto, die drei Pausen abgezogen, bleiben gut sechs Stunden Spieldauer übrig, also in etwa eine massiv verschleppte "Götterdämmerung", ein "Tristan" oder ein "Parsifal" in Super-Zeitlupe. Wagnerianer können nur müde lächeln über das Gejammer dieser verweichlichten Theatergänger, die alles oberhalb von zwei Stunden schon als Körperverletzung betrachten.

Um aus einer Überlänge-Performance wie dieser heil wieder rauszukommen, muss man einige Grundregeln beachten. Ganz wichtig, wie bei jedem Marathon, erst recht für Anfänger: Trinken, trinken, trinken. Keine allzu schwere Nahrung, das rächt sich bei gut 2,5 Stunden vor der ersten Pause mit Seitenstichen im engen Gestühl. Vor allem aber: bequeme Schuhe! Der Fisch stinkt vom Kopf, der Langzeit-Zuschauer jedoch leidet vom Fuß. Mitunter aber auch dessen Nachbar in Riechweite, wenn Schuhwerk, das lieber fest verschlossen geblieben wäre, gelüftet wird.

"Der Worte sind genug gewechselt."

Kurz nach 17 Uhr, Parkett Reihe 3 rechts außen, Anpfiff. Bevor Sebastian Rudolph als Faust auf die leere Bühne kommen und über eine Stunde lang sein Grund-Dilemma in einem grandiosen Solo ausbreiten wird, beglückwünscht Regisseur Nicolas Stemann den Saal zur Entscheidung für Faust statt Freibad. Er erklärt die Abläufe wie eine Stewardess den Weg zu den Notausgängen und bittet ums Durchhalten, weil es gegen Ende noch mal so richtig gut werden soll. Na dann. Drei Plätze weiter rechts gluckst Volksbühnen-Dramaturg Carl Hegemann, zuletzt beim schlimm versägten Bayreuther "Tannhäuser" gesichtet, vorfreudig ins Halbdunkel.

"Von Zeit zu Zeit seh ich den Alten gern." / "Welch Schauspiel."

Kann man sich am "Faust" sattsehen? Nur, wenn er nichts taugt. Das ist hier nicht der Fall. So konzentriert, leidenschaftlich und genau, wie Stemann den Doktor mit den zwei Herzen in seiner Brust auf uns Zuschauer loslässt, wird das Drama zeitlos, aktuell, aufregend. Faust ist Mephisto ist Gretchen, der Text wird zur dreistimmigen Goethe-Fuge. Das Reclam-Heft wird geschlachtet, aus Spaß wird Ernst, sobald der Kern aus dem Pudel raus ist und die junge Schöne (packend bei jedem Auftritt: Patrycia Ziolkowska) die nach ihr benannte Frage mit der Religion stellt. Faust sind wir alle in diesem Moment, und in vielen, die noch folgen.

"Grau ist alle Theorie."

Halbzeit. Knapp 4700 Verse sind geschafft, die restlichen 7500 werden von nun an durch Barbara Nüsse - sie geistert als greiser Geheimrat durchs Geschehen - am Bühnenrand mit Hunderter-Strichen markiert. Damit man (wie bei Stemanns Version von Jelineks "Kontrakte des Kaufmanns") immer schön weiß, wie viel man schon hat, wie viel man noch muss. Am Imbiss-Tisch vor dem Haupteingang steht Thalia-Intendant Joachim Lux. Vier dieser Komplett-"Fäuste" hat er schon hinter sich, jetzt ist er mehr zur Kontrolle hier, um zu sehen, ob das Ganze nach der Premiere in der rumpelig-weiten Fabrikhalle auf der Pernerinsel bei den Salzburger Festspielen auch hier im Stadttheater-Rahmen mit Guckkasten-Panorama funktioniert. Auf jeden Fall hat das Thalia einen Standortvorteil: Die Sitze in Hallein sind Bandscheiben-Killer.

Kultursenatorin Barbara Kisseler gesellt sich dazu. Sie tun sich das auch an? Klar, freut sie sich aufs Kommende, "ich bin Überzeugungstäterin". Das ist nicht neu, aber immer wieder schön zu hören. Für den kleineren Hunger zwischendurch wird "Des Teufels Tüte" angeboten für 6,50 Euro, mit Obst, Käsebrot, Müsli-Riegel, Capri-Sonne, Traubenzucker, Hustenbonbons (unnötig, denn die Spannung verhindert das übliche Langeweile-Röcheln im Saal) und einer Espresso-Kapsel. Auf die kommen wir später noch zurück.

"Die Kunst ist so lang und kurz ist unser Leben."

Die Pause vom Theater ist keine, denn vor dem Haupteingang startet der Schlingensief-Schüler Stefan Kolosko eine kleine Guerilla-Marketing-Aktion. Als Werbespot für "Der Untergang 2, ein starkes Stück Theater ohne Bruno Ganz", ab 6. Oktober auf Kampnagel zu besichtigen, gibt es Sprechtheater und Singsang vor einem plakatbeklebten VW-Bus. Muss man mögen, so was.

"Entbehren sollst Du."

Kann ich so nicht sagen, es geht noch ganz gut. Ein Nebenplatz ist wegen Feigheit vor dem Faust frei geworden, die dazugewonnene Beinfreiheit ein Traum. Kollegen sprechen mich auf mein Handgepäck an, die Marathon-Lunch-Box. Aber bei meinem Müsli-Riegel hört die Freundlichkeit auf.

"Was ist das für ein Marterort."

"Faust II" zieht sich im vorderen Mittelteil doch arg hin. Das liegt teils an Stemanns Inszenierung, die mit ihrer holzhämmernden Kapitalismuskritik nervt. Gut, ich bekomme lustig was zu sehen, doch, ach, an der Erhellung mangelt's. Josef Ostendorf als neu eingewechselter Mephisto knödelt in bewährter Manier vor sich hin, Stemanns gute Vorsätze scheitern auf sehr hohem, aber zumindest optisch sehr unterhaltsamem Niveau. Vor allem aber wird in meinem Hinterkopf eine ketzerische Frage immer lauter: Wieso hatte Goethe, den Philipp Hochmair zum hinreißend knatternden "postdramatischen Geheimrat" aus Wien karikiert, für dieses epische Geschwafel keinen brutal streichenden Lektor? Egal. Da müssen wir alle jetzt durch.

"Des Lebens Pulse schlagen frisch lebendig"

Der "Helena"-Akt, auf den ich gut hätte verzichten können, ist überstanden. Zeit für ein großes Dankeschön an die "Weltbühne"-Gastronomie, die die schon erwähnte Espresso-Kapsel in die Lunch-Tüte gepackt hat. Die Maschine dazu steht im Café im ersten Rang, so gut hat ein Schuss Koffein in die Blutbahn schon lange nicht mehr getan. Kann weitergehen, ich kann noch.

"Alles schläft, der Dichter lacht."

1.23 Uhr: Finale! Schaumstoff-Engel schweben über uns, Ostendorf trägt Kleid, Flügel und Handtasche und singt: "Das Unzulängliche, hier wird's Ereignis; das Unbeschreibliche, hier ist's getan." Wer wollte da noch widersprechen. Erst recht um diese Uhrzeit.

"Die Erde hat mich wieder."

Weil die Nachfrage nach dem "Faust“-Marathon so groß ist, hat das Thalia-Theater weitere Termine in den Spielplan aufgenommen: 26.11., 10.12. und 26. 12.

Weitere Infos unter thalia.de