Seine Rollen kann er sich aussuchen, am Thalia gastiert er gleich zweimal: Michi Maertens, Spross einer Hamburger Theaterdynastie.

Hamburg. Mehr Hamburger Theatertradition in einer Familie geht eigentlich nicht: Michael Maertens, Ausnahmeschauspieler, der an allen bedeutenden deutschsprachigen Bühnen große Rollen spielt, ist Spross einer Dynastie, die seit mehr als 80 Jahren am Thalia zu Hause ist. Großvater Willi Maertens kam 1927 als jugendlicher Komiker an das Theater, das er von 1946 bis 1964 dann sogar als Intendant leitete. Vater Peter Maertens feierte in diesem Jahr sein 50-jähriges Bühnenjubiläum am Thalia. Und auch Michi Maertens ist hier groß geworden: 1989 bekam er hier seine erste Rolle, die Titelrolle in Goethes "Clavigo" - und den Boy-Gobert-Preis gleich noch obendrauf.

Woanders spielt Michi Maertens den Hamlet, Amphitryon oder Richard II. Und natürlich immer wieder Komik. Wie kaum ein Zweiter beherrscht er Slapstick, Sprach- und Körperkomik aufs Feinste. Und nun, im Oktober, kann man Michi Maertens gleich zweimal in Hamburg sehen - sehr komisch und ganz ernst. Dann nämlich gastiert er mit zwei Inszenierungen beim Hamburger Theaterfestival.

Seit elf Jahren spielt er bereits in Matthias Hartmanns Inszenierung "Der Parasit" den korrupten Polit-Glücksritter Selicour - Friedrich Schillers Geschichte vom Aufstieg eines Schleimers, Hochstaplers, Nichtskönners und Intriganten. Es sei "eine ganz große Show", heißt es. Oder auch Klamauk mit Tiefgang. Naturgemäß passen Schiller und Komödie nicht so recht zusammen. Der Mangel an Humor war eines der Markenzeichen des Autors, der Theater als "moralische Anstalt" ansah. Für die vom Herzog zu Weimar geforderte leichtere Unterhaltung bediente sich Schiller darum einer Pariser Vorlage: "Der Parasit" von Louis-Benoît Picard (1769-1828), die er bearbeitete. Und doch: Die skrupellose Gier und das Streben eines einzelnen Mannes nach sozialem Aufstieg, Reichtum und Macht mit höchst zweifelhaften, kriminellen Methoden, hat nichts an Aktualität eingebüßt. Heute nennt man es Mobbing, Korruption und Veruntreuung. Maertens spielt unter Einsatz all seiner Mittel. Er quietscht, röhrt und säuselt, er verbiegt seinen Körper, windet sich, schmeichelt, näselt, er rührt sich selbst zu Tränen, windet sich dabei in heuchlerischen Tönen, seine Stimme schwillt sirenenhaft an, um am Satzende dann auszuschnaufen. "Mitleid für alle, die solche Bürogenossen haben!", schrieb "Der Standard".

"Es gibt manchmal Rollen, die sind Glückstreffer", sagt Maertens. Diese Rolle ist es. "Es ist ein tolles Stück, seriös und auch boulevardesk. Vor elf Jahren kamen wir damit in Bochum raus, und die Zuschauer waren aus dem Häuschen. Wir haben es dort mehr als 80-mal gespielt, später dann 50-mal in Zürich." Am Wiener Burgtheater hat er nun schon 30 "Parasit"-Vorstellungen hinter sich. Immer wieder ist das Stück uminszeniert und umbesetzt worden. Luxuriöser als am Burgtheater war's aber noch nie. Da stehen neben Maertens etwa Kirsten Dene, Oliver Stokowski, Johann Adam Oest und Udo Samel auf der Bühne. "Ich bin umgeben von edlen Rennpferden", behauptet Maertens. "Natürlich habe ich mich mit der Rolle entwickelt", sagt er, "auch dadurch wirkt die Aufführung frisch." Aber wo die sicheren Lacher sitzen, das weiß er schon. "Klar", erklärt Maertens, "die hole ich mir auch."

Gilt dabei die alte Theaterregel "Dezenz ist Schwäche"? "Ja, die Komik ist etwas gröber gezeichnet, eher Jerry Lewis als Loriot", sagt Michael Maertens, "das hängt auch damit zusammen, dass die Figuren im Stück Archetypen darstellen, ähnlich wie im Märchen. Für mich war es spannend zu erkennen, dass das Publikum in Bochum, Zürich und Wien völlig anders reagiert. Das liegt wohl am jeweiligen Temperament der Bevölkerung. Wobei die Schweizer Zuschauer keineswegs langsam sind. Sie sind schlau, reagieren bedachter als die Österreicher. Oder die Deutschen. Ich werde mich in Hamburg ans Publikum herantasten." Gern, aber bitte nicht zu vorsichtig! "Keine Angst", sagt Maertens. "Aber das Stück ist ja nicht nur zum Kreischen. Selicourt ist auch ein großer Bösewicht. Das Stück ist intelligent, kurzweilig und jeder Zuschauer kann sich irgendwo wieder erkennen. Das ist das Geheimnis der Komik. Eigentlich schade, dass es so selten aufgeführt wird. Clevere Schauspieler sollten sich das Stück holen. Boy Gobert hat es ja auch mal gespielt."

Im zweiten Gastspiel, Barbara Freys "Platonow"-Inszenierung aus Zürich, zeigt Michael Maertens einen tragischen Helden und nonchalanten Zyniker. "Wie alle Hamburger hatte ich Hans-Christian Rudolph aus der grandiosen Flimm-Inszenierung von 1989 dabei im Kopf", erklärt Maertens. "Seitdem wollte ich die Rolle auch mal spielen, diese zerrissene, depressive, vielleicht auch ein bisschen unangenehme, sehr ich-bezogene Figur. Wir erzählen die Geschichte klassisch, die Regisseurin wagt sich weit vor in die Psyche der Menschen. Sie hat großes Verständnis für die Tschechow-Welt. Oft ist es ja leider heute so im Theater, dass man nur noch Fragmente zu sehen bekommt. Oder zwei Schauspieler spielen die Rollen von acht Personen. Oder die Hälfte des Stücks wird auf einer Videoleinwand erklärt. Wir interpretieren das Stück durch die Rollen. Der Abend ist auf die Schauspieler gemünzt."

"Platonow", ein Stück aus Tschechows Nachlass, erzählt die Geschichte des Don Juan wider Willen, des melancholischen, antriebslosen Dorfschullehrers, der von den Frauen angehimmelt wird.

Michael Maertens lebt seit ein paar Jahren in Wien, spielt am Burgtheater. Ist man als Schauspieler am Ziel angekommen, auf dem Olymp, wenn man am wichtigsten deutschsprachigen Theater spielt? "Ich will nun wirklich nicht schleimen", sagt Michael Maertens, "aber Hamburg ist die wichtigste deutsche Theaterstadt. Hier haben so viele tolle Schauspieler gespielt, so viele tolle Regisseure gearbeitet. Das Publikum hat das alles zu schätzen gewusst. Ich bin nur leider zu rastlos, um immer an einem Ort zu bleiben. In den letzten Jahren hat sich das aber schon gebessert. Ich sag's mal so: Ich will nicht immer in Wien bleiben. Ich hoffe, dass ich es irgendwann ganz nach Hamburg schaffe. Ich hab die Stadt wahnsinnig gern. Die Vorurteile stimmen nicht, die Hamburger sind hilfsbereit und lustig. Ja, manchmal hab ich Heimweh."

Michael Maertens' Großvater Willi war 18 Jahre Intendant am Thalia-Theater. Könnte sich der Enkel vorstellen, ein Theater zu leiten? "Nein", sagt Michael Maertens. "Das wäre eine große Belastung. Als Theaterleiter muss man ständig Menschen enttäuschen, weil man ihnen die Rollen nicht geben kann, die sie sich wünschen." Schade eigentlich, dass er für den Intendantenberuf verloren ist. "Ja, schön wäre es schon, wenn man sich als Theaterleiter die schönsten Rollen selbst aussuchen könnte", räsoniert Maertens. Aber da redet er natürlich Unsinn. Die schönsten Rollen kann er sich doch schon seit Langem aussuchen.

"Der Parasit" , 4.-6. Oktober, "Platonow" , 26./27. Oktober, jeweils 19.30 Uhr , Thalia-Theater, Karten ab 15,-/erm. 12,- an der Theaterkasse oder über www.hamburgertheaterfestival.de