Alles im Wasser beim Dockville-Festival in Wilhelmsburg - Musik, Stimmung, Schuhe. Vom Willen und Zwang der stetigen Neuerfindung.

Hamburg. "Zuerst haben wir St. Pauli und Blankenese groß gemacht, jetzt ist Wilhelmsburg dran", rufen die Goldenen Zitronen, Hamburgs bewährt wehrhafte Pop-Freigeister, am Sonnabend sarkastisch von der Bühne. Die Botschaft ist klarer als die schrägen Elektro-Rock-"Positionen": Vielfalt und Veränderung sind ein stetiges Gezerre, zum richtigen Gleichgewicht hat jeder eine andere Meinung. Vielfalt und Veränderung. Mit diesen Schlagworten werben zwar viele Festivals. Doch deutlicher als das Dockville kommuniziert wohl kaum eine andere Großveranstaltung den Willen und den Zwang zur stetigen Neuerfindung.

Am offenkundigsten wird die Konstante "Wandel" für alle Gäste schon beim Betreten des Geländes. Das sieht auch 2011 wieder ganz anders aus als noch vor einem Jahr. Die Internationale Bauausstellung IBA, die seit 2007 Wilhelmsburg und die Veddel umgestaltet, lässt auch das Festivalgelände nicht unberührt. Wo im vergangenen Jahr noch alte Fabrikgebäude standen, versperrt jetzt ein hoher Zaun den Zugang zu einer Brachfläche. Das Waldstück, sonst allein den Campern vorbehalten, ist zur Heimat für drei der sieben Bühnen geworden.

+++ Das Dockville Festival im Internet mit Bildern, Blog und Berichten +++

Der sich aufdrängende Eindruck, dass hier um jeden unregulierten Quadratmeter gerungen wird, täuscht nicht: Jedes Jahr gehen dem eigentlichen Festival zähe und komplizierte Verhandlungen mit der Stadt voraus. Im Spannungsfeld zwischen geplanter Stadtentwicklung und kreativem Wildwuchs ist das Organisationsteam zu planerischen Volten gezwungen. Im Ergebnis aber macht der Charme des Provisorischen, Unfertigen ein Gutteil der Lebendigkeit aus, für die das Dockville bekannt ist.

Im Gegensatz zu minutiös durchgeplanten Größtveranstaltungen wie etwa dem Hurricane-Festival geht es an der Elbe in Wilhelmsburg deutlich familiärer zu. Im ehemaligen Labor der DEA sind Garderoben, Catering und Pressebereich untergebracht. Auf den Fluren laufen Ordner, Künstler und Journalisten durcheinander, räubern gegenseitig ihre Biervorräte und stoßen damit zusammen bei spontanen Interviews an oder helfen sich beim Anlegen von provisorischen Stiefelgamaschen aus Mülltüten.

Denn jeder Regenguss, der seit Donnerstag über dem Gelände niederprasselte, ließ aus Wegen Flussläufe, aus Pfützen Tümpel und aus den Flächen vor den Bühnen Matschsuhlen werden. Aber der Schlick ließ den Großteil der 20 000 Besucher ebenso kalt wie die teilweise komischen, teilweise wirklich nervigen Randerscheinungen, die ein Festival mit Strukturzwängen wie Dockville mit sich bringt. Die Fans sind schließlich für die mehr als 100 Bands und DJs gekommen.

Auch das Musikprogramm ist von Wandel und Veränderung bestimmt, und das nicht nur, weil die Witterung Bühnen- und Ablaufpläne durcheinanderwirbelt. Deutscher Hip-Hop, vor kurzer Zeit noch totgesagt, feiert schneller fröhliche Wiederauferstehung, als die Tour-Agenturen vorhersehen können. So landet Casper am Sonnabend auf einem Nachmittagstermin, obwohl der Rummel um sein aktuelles zweites Album "XOXO" und die Menge vor der Bühne so groß sind, dass man sich ein wenig an Jan Delays Headliner-Auftritt vor einem Jahr erinnert fühlt. Casper aber ist kein schicker Styler, kein augenzwinkernder Poet. Der Bielefelder dealt mit großen Gefühlen und mit seiner Stimme, die wie eine Grobfeile über das Trommelfell schrappt: "Diese Welt ist perfekt." Das Pathos schwappt aus den Boxen. Musik gewordene Sinnsucherliteratur vom Schlage eines Paulo Coelho trifft auf breitbeiniges Gehabe, die Mischung scheint für viele einen Nerv zu treffen.

Rap-Machismo und diffus-persönliche Inhalte vermengt auch Marteria. Der Rostocker steht, ebenso wie Casper, für eine neue Schule des Rap, für stilübergreifende Anleihen und überbordendes Selbstbewusstsein. Andere hingegen schauen zurück in die gute alte Zeit des Hamburger Hip-Hop. Die Band Eljot Quent ist hoffnungslos "Old School", hoffnungslos hanseatisch: Sie erinnert an Fettes Brot, an die Absoluten Beginner und Eins Zwo und wirkt angenehm entspannt neben den sich selbst überhöhenden Einzelkämpfern.

Völlig unentspannt und gerade deswegen großartig ist Kellermensch aus dem dänischen Esbjerg. Das Septett holzt seine düsteren, wütenden, traurigen Lieder mit einer Wucht in die Gegend, dass man völlig konsterniert stehen bleibt. Sänger Christian Sindermann tobt über die Bühne, schreit und leidet vor der beeindruckenden musikalischen Kulisse, die seine Mitstreiter aufbauen. Mit Kontrabass, Geige und Orgel als Bonusinstrumenten entstehen bedrohliche Klanglandschaften, aus denen es kaum ein Entkommen gibt. Am Ende wirft der völlig verschwitzte Sindermann sein Mikro in eine Ecke, es kracht aus den Boxen, während er von der Bühne stürmt.

Für nordische Bands sind eh alle Grenzen aufgehoben. Kakkmaddafakka aus Norwegen oder Those Dancing Days, Golden Kanine und Johnossi aus Schweden kümmert es nicht, ob sie nach Indie, Rock, Pop oder Wave klingen. Jeder Song steht für sich, jede Minute ist im Fluss, der sich immer neue Läufe sucht - der Sound, für den Dockville 2011 steht.

So ist auch für die Besucher nicht einmal der Weg das Ziel. Auf immer neuen Pfaden suchen sie sich, an feststeckenden leeren Gummistiefeln und einsamen, weil unerreichbaren Kunstobjekten vorbei, eine Straße zum Hamburger Pop-Quirl Andreas Dorau. Eine Gasse durch die Menge vor der Zeltbühne zu den Berliner Folk-Elektronikern Bodi Bill. Einen Stieg zu den NRW-Wavern Beat!Beat!Beat! Und landen dann doch mitten in einer Kissenschlacht, bei einem Poetry-Slam oder in den Armen von kontaktfreudigen Fans, die rohen Brokkoli zum Naschen anbieten.

Wer den Wandel sucht, der findet sie: die Veränderung.