Bei Regisseur Antú Romero Nunes wird das große Weltenepos “Merlin oder Das wüste Land“ im Thalia-Theater zur Posse mit Tiefe und Ernst.

Hamburg. "Seid ihr alle da?", fragt die Clownin das feine Premerienpublikum im Thalia-Theater. Als buntes, kalauerndes und rotziges Kasper-und-Narren-Spiel wirft Antú Romero Nunes das große Weltenepos "Merlin oder Das wüste Land" ins leere, offene Bühnenhaus. Er verwandelt die hehre Artus-Sage in eine Posse und gewinnt ihr ohne bedeutungsschweres Zeigefingertheater trotzdem Ernst und Tiefe ab. Ein Witz über dem Abgrund. Eine tragikomische Parabel über den Wahnsinn der unbelehrbaren Menschheit.

Der 27 Jahre alte Hausregisseur am Berliner Maxim-Gorki-Theater hat bisher in der Garage des Thalia-Theaters ("Invasion!", "Atropa. Die Rache des Friedens"), aber auch in Düsseldorf und Frankfurt inszeniert. Er kürzte die 99 Szenen des Acht-Stunden-Dramas von Tankred Dorst und Ursula Ehler radikal ein, erfand aus der Improvisation eigenes Szenenmaterial und entfesselt mit neun Schauspielern ein passagenweise hinreißendes Chaos auf der Bühne, in dem sich die Unordnung in der Welt spiegelt. Für das beeindruckende Debüt von Romero Nunes im Großen Haus gab es zwar einige Buhrufe nach der Premiere, aber auch viel Applaus, der vor allem der geschlossenen Ensemble-Leistung mit etlichen glanzvollen Soli galt.

Eine rote Konfetti-Explosion kündigt Merlins Geburt an, des Sohns der beiden teuflischen Narren. Noch ein Narr also - und zauberbegabt dazu. Er knipst sogleich das Licht im Zuschauerraum an und wieder aus, wirft mit Knallerbsen um sich. Das Trio übernimmt die Spielleitung und agiert als Drahtzieher des dreieinhalbstündigen Abends. Im Gegensatz zu seinen mit diabolischer Lust Quatsch treibenden Eltern (ein wahrhaft tolles Duo: Lisa Hagmeister und Mirco Kreibich) will Merlin ausziehen, "um Sinn zu machen": In der Welt - und natürlich auch auf der Bühne. Nicht der einzige ironische Seitenhieb auf das Bildungstheater, den sich Akteure und Regisseur leisten.

An wahre Helden glauben junge Leute ohnehin nicht mehr und verwandeln sie darum in charmante Witzfiguren, die an ihren Idealen oder Leidenschaften und der Wirklichkeit tragikomisch scheitern müssen. Doch Merlin will mit Artus und seiner Tafelrunde dem Guten noch einmal eine Chance geben. Gelegenheit für Jörg Pohls Merlin an der Grenze zum Stand-up-Comedian mit dem künftigen König Artus (André Szymanski) Schwert-Slapstick oder einen Tischler-Sketch zu spielen: "Wir sind Kelten, Digga". Die Bretter im Kopf, die dem gekrönten Idealisten den Blick für die reale Welt verstellen, wachsen dann allerdings bedrohlich aus zur bühnenbreiten und -hohen Wand.

Merlins Späße kippen stets unvermittelt in Ernst. Er schnappt sich den jungen Ritter Galahad und verwandelt ihn von einer Minute zur anderen in einen Greis. Mehl im Gesicht, gelingt Sebastian Zimmler trotz der Jahrmarktsnummer eine beklemmende Sterbeszene, mit der Merlin seinen prophetischen Ruf in den Zuschauerraum "Ihr sterbt ja!" ins Gedächtnis ruft.

Das Publikum ist immer wieder direkter Adressat und Bezugspunkt der Inszenierung. Es fungiert als Heer des Artus, dem er eine von Chorgesang übertönte Politikerrede für den Krieg hält: "Unsere Sache ist gut." Aus den Parkettreihen steigen die Ritter auf die Bühne: zuerst Artus, dann Lanzelot vom See (ein cooler Sexbolzen: Daniel Lommatzsch) und der von Artus ungeliebte Sohn Mordred (fabelhaft: Rafael Stachowiak). Er glaubt weder an Gott noch an gute Taten, ein echter Ego-Mensch von heute, der seines Vaters "Reich des Friedens" vernichten wird. Zwischen den Männern als Objekt der Begierde Franziska Hartmann als Ginevra im königsblauen Schleppkleid (Kostüme: Matthias Koch). Auch Parzival, der blond gelockte Gottsucher, fehlt nicht, den Julian Greis allerdings in märtyrerhaftem Sendungsbewusstsein auf einen weinerlichen Ton festlegt.

Romero Nunes gibt - entsprechend dem Dorst-Szenario und es achtend - in den dreieinhalb Stunden keinen erbaulichen Bilderbogen. Er holt den Mythos in die Gegenwart und erfindet in dessen Kontext seine bewährten Stilmittel neu: das Brechen der Figuren, deren Spieler Distanz zu ihnen wahren, oft als Zuschauer die Szene beobachten; den Einsatz von Körper- und Schattenspiel anstelle psychologischer Deutung; das Öffnen und Schließen des Bühnenraums von Florian Lösche.

Nach der Pause verhängen Papierbahnen die Bühne, die zugleich als Labyrinth für die nach dem Gral suchenden Ritter dienen, wie auch als Leinwand für Livevideo und magischen Bilderzauber von Merlin. Während er Wasser aus einer Flasche trinkt, steigt farbige Flüssigkeit im Bild empor und entfaltet sich zu einer Traumlandschaft. Artus' weißes Luftschloss von einer friedfertigen Welt sinkt nach und nach in sich zusammen. Es wird zur Kraterlandschaft auf dem Mars, von dem die Narren entzückt den spektakulären Auf- und Untergang der Erde genießen, und weicht schließlich der Wüste der leeren Bühne.

Dort beginnen die Narren ihr Spiel wieder von vorne. Das Chaos pflanzt sich fort wie auch das Leben. Ein nie endender Kreislauf, symbolisiert in der rotierenden Drehscheibe. Das ist die Botschaft dieses Narrenspiels. Sein ursprünglicher Sinn ist das Theater selbst, das den Menschen und dem Wahnsinn in der Welt einen Spiegel vorhält.

Merlin oder Das wüste Land: 13./16.9., 19.30 Uhr, und 25.9.,19 Uhr; Thalia-Theater Karten 040-32 81 44 44; www.thalia-theater