Im Lichthof wird Händels “Orest“ mit den Mitteln des epischen Theaters zerstückelt, bis ihr Kern freiliegt. Es ist ein ungewöhnliches Projekt.

Hamburg. Händel trifft auf Free-Jazz, Sänger begegnen einem Schauspieler, Splatter-Film bemächtigt sich der antiken Atriden-Tragödie. Das für den Lichthof ungewöhnliche Musiktheaterprojekt "Orest reloaded" eröffnete die Saison der Experimentierbühne in Bahrenfeld. Mit seinem Konzept hatte Paul-Georg Dittrich den von Hamburgischer Kulturstiftung und Lichthof geförderten Start-Off-Wettbewerb für Theaternachwuchs gewonnen.

In seiner Inszenierung nach Georg Friedrich Händels aus Hits eigener Werke zusammengestrickter Pasticcio-Oper "Orest" fährt der Regisseur einen zwar manchmal plakativen, doch perfekt funktionierenden Konfrontationskurs zwischen Oper und Schauspiel - mit einem überraschend vielschichtig und satirisch ausgefallenen Ergebnis. Der Absolvent der Hamburger Theaterakademie zerstört Händels Koloratur- und Melodienglanz mit dem Sezierbesteck des epischen Theaters und legt drastisch den brutalen Kern des Mythos bloß: die Folgen des Krieges, die Ausgrenzung des Fremden und die Verletzung von Menschenrechten im Kampf gegen "illegale Einwanderer".

König Thoas, Herrscher auf der Insel Tauris, rekelt sich überheblich und lüstern im Campingstuhl vor Iphigenies Wohnwagen und erklärt sich als Schützer der Grenzen gegen die Fremden (Bühne: Lea Kissing/Luise Zender). Er begehrt die ihm von der Göttin Artemis anvertraute Agamemnon-Tocher und Schwester von Orest. Zur wunderschön gesungenen Arie "Mein Verlangen hält keiner auf" entlarvt der Bassist Tobias Hagge Thoas als sadistischen Vergewaltiger. Ein verstörender Bravourakt.

Auch die von Goethe als Inkarnation des Humanismus idealisierteIphigenie (kraftvoll und zart: Andrea Chudak) zeigt in Julian Strucks gewalt- und sexgeladenen Filmsequenzen ihre dunkle Seite als moderne Menschenschlächterin. Nach Thoas' Willen soll sie auch ihren Bruder und dessen Freund Pylades opfern. Kai Meyers rockender Orest ist nicht nur ein Fremder auf Tauris, der Schauspieler ist es auch auf der Bühne zwischen den beiden ausgezeichneten Sängern. Er weiß sich jedoch mit Gesang und E-Gitarre beeindruckend zu behaupten, schlägt auch andere Töne an, etwa im zweiten Akt beim humoristischen Intermezzo der Sangesschlacht, die der Regisseur auflockernd einschiebt. Hagges Triumphgesang des Kerkermeisters Osmin aus Mozarts "Die Entführung aus dem Serail" kontert Meyer mit seinem "Freedom"-Schrei und "It's A Mad World". Er übernimmt auch die Rolle des Orest-Freundes Pylades, indem er sich demonstrativ eine Jacke überstreift.

Die Spieler springen mehrmals aus ihren Figuren, sprechen Regieanweisungen oder erzählen anfangs die blutige Vorgeschichte. Bei der kurzen Barock-Opern-Parodie führt der Bass Regie und zitiert mimische Anweisungen und Gesten für die Darsteller von damals. Auch der Pianist und Arrangeur Hannes Zerbe und der Bläser Gebhard Ullmann bestimmen das Spiel mit. Zerbe rezitiert Luigi Nonos Credo von der politischen Verantwortung des Künstlers. Den Traktat hätten sich er und Dittrich allerdings schenken können. Es wird auch so deutlich, dass es dem Regisseur um eine politisch aktuelle und kritische Deutung des Dramas vom seelenlosen, traumatisierten Krieger Orest geht, den die Schreckensbilder in seinem Kopf verfolgen.

Paul-Georg Dittrich kommt von der Schauspielregie, ist aber fasziniert von der theatralen Gratwanderung zwischen Musik und Sprache. Er will, wie er sagt, hinter dem Idealbild vom schönen Klang durch Rauheit und Hässlichkeit dem Werk Wahrheit und Gegenwartsbezug gewinnen. Das gelingt ihm mit dem Orest-Stoff nahtlos. Etwas mehr Leichtigkeit und Raffinement wären Dittrich aber bei seinem zuweilen Agitprop-haften Furor zu wünschen, den sich David Marton, Dittrichs offensichtlichem Regievorbild, zugunsten der spielerischen Satire schenkt, wie in seiner "Krönung der Poppea" am Thalia zu sehen war.

Dittrich gelingt es jedoch, die Ebenen von (Film-)Bild, Kommentar, Musik und Spiel deutlich und gegeneinander zu führen. Ist die Musik anfangs intakt, begleitet der "Schöngesang" das eigentlich grausame Geschehen, wird Klangharmonie im Körperspiel unterlaufen. Sukzessive lösen die Musiker Händels Partitur auf und interpretieren zum Finale mit den Spielern - postiert an der Rampe wie Konzertsänger - den Schlusschor aus der Oper zu jazzig aufgelösten Improvisationen.

Auch wenn das vereinte Spielertrio im rhythmisierten Sprechgesang Frieden und Versöhnung beschwört ("Alle Ängste sind vorbei"), entlarven die Dissonanzen der Musiker die Hoffnung als Illusion und Lüge.

Orest reloaded 29. u. 30.10., Lichthof-Theater, Karten: T. 85 50 08 40; www.lichthof-hamburg.de