Zu Recht auf der Liste der Anwärter auf den Deutschen Buchpreis: Jan Brandts Debütroman “Gegen die Welt“ ist auch ein Heimatroman.

Hamburg. Ostfriesland! Provinz! Platte Ebene! Ein endloser Himmel über dünn besiedelter Landschaft, Kleinstädte, Dörfer. Kühe, die auf Weiden grasen, und Menschen, die unverständlich sprechen. Niederdeutsch ist grundsätzlich eine schwere Sprache, und Ostfriesisches Platt ganz besonders. Emden, Aurich, Leer, Norden, Otto Waalkes. Jever, Moore, Inseln, Wind, Holland. Kiffen, Metal, Bremen und Hannover. Manchmal auch Hamburg. Das sind die Koordinaten und klischierten Vorstellungen, in denen sich das Leben der Ostfriesen abspielt, und das sind die Fluchtpunkte, die die Provinzler aufsuchen.

Was macht man in einem Dorf (das gar nicht in Ostfriesland, sondern auch in der Pfalz oder im Sauerland liegen könnte), den lieben langen Tag? Man geht zur Schule und zum Konfirmandenunterricht, wenn man jung ist. Man geht zur Arbeit, singt im Chor, spielt in der Kneipe Karten und betrügt seine Frau. Man redet (jetzt wieder im Falle der ostfriesischen Provinz) gut über Werder und schlecht über den HSV. Und irgendwann, als junger Mensch aber noch, wird man vielleicht wahnsinnig, mindestens, oder man muss seiner Fantasie dabei zusehen, wie sie sich erst in ungeahnte Höhen schraubt und dann explodiert. Der 1974 in Leer geborene Schriftsteller Jan Brandt veröffentlicht dieser Tage sein erstes Buch. Es heißt „Gegen die Welt“, ist über 900 Seiten dick und auch sonst sehr erstaunlich, ein kolossales Debüt.

Und ein Heimatroman, der genauso gut ein Anti-Heimatroman ist. Mehr als fünf Jahre hat der Ostfriese Brandt an dem Buch gearbeitet, dessen Zeitrahmen beinah drei Jahrzehnte umfasst. Es erzählt die Geschichte eines Jungen namens Daniel Kuper und die seiner Freunde: Ein Epos über Nähe und Abstoßung, Liebe und Verrat, Hoffnung und Vergeblichkeit. Die norddeutsche Folklore ist am Ende nur Beiwerk zu den großen Themen; das ist ja auch irgendwie gut so, denn die Handlung schmeichelt dem ostfriesischen Rand der Republik nicht wirklich. Es ist also besser, das Dorf Jericho als Metapher für alle Dörfer dieser Welt zu nehmen – Gemeinschaften, in denen jeder jeden kennt. Das Maß an Geborgenheit, das diese Lebensform ausmacht, spiegelt sich in der stickigen Enge und der Beklommenheit, die sie hervorruft.

„Gegen die Welt“ verhandelt die soziologischen und psychologischen Faktoren, die das Zusammenleben in der Dorfgemeinschaft ausmachen. Das Leben auf dem Dorf ist ein Kampf mit den Dämonen, so sieht es der Erzähler Brandt, der seinen schmächtigen und schüchternen, verträumten und stets etwas entrückten Helden Daniel Kuper an der Niedertracht der Verhältnisse zuschanden gehen lässt. Es ist ein Scheitern im großen Stil.

Was haben wir? Jericho, das Dorf an den Bahngleisen, in dem es die Alteingesessenen und die Zugezogenen gibt. Die Zugezogenen werden von den Alten „Kommunisten“ geschimpft, sie gehören einer anderen Generation an. „Wann immer sie konnte, fuhr sie in die Stadt, drei Stunden hin, drei Stunden zurück, um sich vom Land und seinen Bewohnern zu erholen“, heißt es über eine Lehrerin des lüttje Daniel. Der ist der Sohn einer Drogistenfamilie. Der Vater Bernhard „Hard“ Kuper ist einer der „Notwendigen Drei“ im Ort; so bezeichnet sich die Karten dreschende und pausenlos über Fußball klönende Troika aus Drogerist, Herren- und Damenausstatter und Lebensmittelhändler. Seltsamerweise hängen sie dem HSV an; das ist freilich die einzige Unstimmigkeit nach Heimatkunde-Gesichtspunkten. „Hard“ ist ein durchtriebener Geschäftsmann, ein nöliger Vater, untreuer Ehemann und bisweilen peinlicher Witzeerzähler.

Es ist ein Meisterstück, wie nahe der aus der Figurenperspektive berichtende Erzähler den Personen (dem Pastor, dem Lokführer, dem hyperintelligenten Paranoiker) kommt, die in „Gegen die Welt“ auftreten. Er hat dafür jedoch auch Zeit: Die schiere Länge des Romans (keine Seite ist zu viel) ist es, die die Ausformulierung von psychologisch schlüssigen Lebensläufen ermöglicht. Als Vater ist „Hard“ so ungnädig, wie man überhaupt nur gegen sein Kind sein kann. Er „prügelte dem Sohn das Glück ein“, so ist es einmal zu lesen. Der Filius hat es nicht leicht. Er ist der klassische Außenseiter, der somnambul durch den Alltag wandelt, gleichzeitig aber eine rebellische Ader hat. Er begehrt gegen den Pastor auf, er wehrt sich gegen die Schulhof-Tyrannen, er kämpft gegen das Schlechte im Dorf. Im Falle Jerichos ist das der Baulöwe Rosing, der Bürgermeister werden will. Der Teenager Daniel entdeckt, dass Rosing, der Menschenfänger, seine Wahlkampfreden mit Formulierungen aus „Mein Kampf“ würzt. Und er entdeckt Hakenkreuze an den Wänden des Dorfes. Er will sie überpinseln und wird dabei erwischt: als vermeintlicher Täter. Er hatte seinen Ruf eh schon weg, weil er einige Jahre zuvor beim Schneetreiben in einem Kornkreis lag. Halbnackt und fast erfroren, obwohl doch noch Spätsommer war. Wer suchte das Dorf da heim? Waren es Außerirdische? Oder doch nur der Schläger Rosing, Sohn des Bungalowbauers?

Die Dorfjungen haben eine überbordende Fantasie, sie lesen Perry Rhodan. Sie hören fiesen Metal-Rock. Die Dorfjungen sind grausam, nicht nur gegenüber Daniel. Der ist es selbst, der aus seiner Rolle als Erlöser-Figur des unter den scheußlichen Zwängen der Intimität leidenden Dorfgemeinschaft fällt, als er sich an der Schikanierung des Bauernsohns Peter Peters beteiligt. Der bringt sich anschließend um.

Überhaupt sterben die jungen Leute in Jerichow wie die Fliegen. Nach konservativer Art des Dorfes, indem sie mit dem Auto tödlich verunglücken. Oder, weil sie auf absurde Weise selbst Hand an sich legen. Ein Freund Daniel Kupers entwickelt Wahnvorstellungen und befürchtet eine Invasion der Plutonier. Sein Schicksal wird in einem ausführlichen Einschub geschildert; hinter der Tragik lauert in diesem Teil des Romans wie in allen anderen immer die Komik – vielleicht ist es aber auch umgekehrt, und die Tragik lauert hinter der Komik. Brandt analysiert die Psychologie eines Dorfes, er schreibt fulminante und brillante Dialoge nieder und ist nie zu ambitioniert: Uwe Johnson, der Autor der „Jahrestage“ und Chronist Mecklenburgs, ist als Vorbild gerade richtig. Brandt widmet sich mit seinem wahrhaft großen Roman der Zeitgeschichte der vergangenen 30 Jahre, und es ist großartig, wie er frühe Spuren zum traurigen Finale legt. Daniels Scheitern hat mit der Entwicklung des Dorfs nichts zu tun: Es wird anonymer. Auf den Kuhweiden stehen Einfamilienhäuser, eines sieht aus wie das andere. Die Leute geben den Kampf gegen die Welt da draußen auf, es ist ein Kampf gegen die globale Einförmigkeit. Aber irgendwann heißen die Geschäfte in Jericho eben auch Aldi, Lidl, Schlecker und Edeka.

Und weil das Dorf mit dem Teufel im Bunde war, hat man kein Mitleid mit seinem Schicksal. Dass ein junger Mensch im „Dorf“ als Lebensprinzip enorme Leidenspotentiale finden kann, war einem schon vorher klar. Daniel Kuper auch: „Das Dorf war überall. Das war die Erkenntnis, die sich langsam in ihm ausbreitete“.

J. Brandt: Gegen die Welt. Dumont. 925 S., 23 Euro