Die Britin Anna Calvi erneuert den Blues mit einem Konzert beim Internationalen Sommerfestival auf Kampnagel.

Hamburg. Ein paar geisterhafte Gitarrenakkorde zerreißen die Stille. Flüchtig beschreiben sie eine Weite, eine nicht greifbare Unendlichkeit, wie die Wolken, die so verträumt über die Bühnendekoration ziehen. "No more words" hat Anna Calvi, um ihre aktuelle Seelenlage zu beschreiben. Auf sehr leisen Sohlen schleicht sich ihre Stimme heran, mehr ein Flüstern als ein Singen.

Die eingekerkerten Gefühle, für die sie keine Worte hat, möchte man sich allzu gerne vorstellen. Ihr zärtlich wiederholtes "Oh my love" durchschneidet mit einer Dringlichkeit die Luft, die bei ihrem ausverkauften Konzert beim Internationalen Sommerfestival 2011 auf Kampnagel niemanden kaltlässt. Ihr einziger Anker ist ihre Gitarre, die sie umklammert.

Die Britin mit italienischen Wurzeln gilt derzeit als Retterin des Moritatengesangs, auch Blues genannt, aus der Tradition des Twang, als Schwester im Geiste der Western-Soundtracks eines Ennio Morricone, gespickt mit einer Prise Rockabilly. Vor allem aber als seit Langem gelungenste Verbindung aus weiblichem Rockstar und Gitarre. Nicht umsonst hat sie sich für ihr schlicht "Anna Calvi" betiteltes Debüt PJ Harveys Produzenten Rob Ellis ausgeliehen. Eine ganze Hype-Welle schwappt ihr voraus, als deren Auslöser ihre Mentoren Nick Cave und Brian Eno gelten - zwei Talentsucher mit Gespür für das Mehrdeutige.

Das Geheimnis der Anna Calvi liegt wahrscheinlich in der Kreuzung des scheinbar Unvereinbaren, von Tag und Nacht, verrucht und engelhaft. Ein zartes Persönchen ist sie, wie sie da auf der Bühne steht, streng bezopft im schwarz-weißen Ringel-Shirt, angetan mit dieser gewissen Pop-kompatiblen Niedlichkeit. Wenn da nicht die Stimme wäre. Zu dunkel. Zu abgeklärt. Und doch von einer irritierenden Zartheit. Absolut anbetungswürdig. Eher eine - in langen Unterrichtsjahren gut geschulte - sanft modulierende Jazz-Stimme, die sich verbotenerweise mit den dunklen Geistern des Blues und Rock vermählt. Der Blick in ihre schwarz umrahmten Augen verrät: Anna Calvi muss mit ihren knapp 33 Jahren schon in das Herz der Finsternis geblickt haben.

In fast jedem ihrer Songs kommt der Teufel vor. Bei Anna Calvi tritt er auf wie ein netter Geselle. Jemand, mit dem man mal an der Höllenbar ein Bier trinken gehen möchte. Deutlicher kann sich das Versprechen von der Schönheit des Morbiden nicht einlösen. Ihre Gitarre röhrt und röchelt wie ein angeschossenes Tier. Manchmal streichelt sie die Saiten wie beim Flamenco. Dann wieder bemächtigt sie sich ihrer mit ruppigen Akzenten. Etwa wenn sie vom "Blackout" singt. Vom absoluten Stromausfall, der sie vom Netz der Welt abschaltet.

Schuld daran ist natürlich wieder mal ein Mann. Denn auch Anna Calvi schöpft ihre Inhalte aus den Grabenkämpfen der Geschlechter.

Ihr ausgezeichneter Drummer Daniel Maiden-Woos setzt dazu ein paar markante rhythmische Akzente. Mally Harpaz fügt an Harmonium und Perkussion schöne atmosphärische Störfeuer hinzu. Die Songs entfalten ihre Wucht langsam, aber nachhaltig. Indem Anna Calvi mit der Kraft der Künstlichkeit das Echte schafft, passt sie wunderbar in das Festivalprogramm.

Die Vergleiche mit der Filmästhetik eines David Lynch sind erschöpft. Aber die Bilder lassen sich nicht einfach so ausmerzen. Am wenigsten beim Song "Love Won't Be Leaving". Wenn Anna Calvi von Gesichtern im Dunkel singt, hat man sie vor Augen. Die roten Vorhänge, hinter denen sich Zwischenwelten aufbäumen. Die rotlippigen, großäugigen Mädchen randvoll mit Sehnsüchten erwachender Sexualität, deren Herz und Leben ständig von ruppigen Cowboys bedroht ist. Das ungesunde, schwüle Fieber der Romantik. Anna Calvi ist eine große Verführerin in der Kunst der Todesballade. Von den letzten Dingen singt sie mit der gleichen Inbrunst wie über erste Küsse.

Die Musik steht zwar mit einem Bein im Jenseits, aber es gibt diese Momente, in denen das Feuer des Diesseits sie erfasst. Wenn Calvi uns unmissverständlich von ihrem "Desire" unterrichtet - auch in diesem Song gibt es ein Stelldichein mit dem Teufel - oder wenn sie kaltschnäuzig behauptet: "I'll be your man."

In Ermangelung genügend eigener Songs kommen auch ein paar Stimmen aus dem Jenseits zu Wort. Der große Elvis Presley zum Beispiel mit "Surrender". Und wieder singt Anna Calvi von Herzen im Feuer und killender Sehnsucht. Als zweite Jenseitige kommt die französische Tragödin des Chansons, Edith Piaf, mit "Jezebel" zu Gehör. Einem Bolero-Ritt, zu dem der Staub von den Drums nur so sprüht. Der Kaputtheit setzt Anna Calvi stets aufs Neue ein Pathos entgegen, das auf wunderbare Weise erhebt und tröstet. Hach.