Der verfolgte chinesische Dichter Liao Yiwu hat seine traumatischen Erlebnisse in den Gefängnissen seiner Heimat aufgeschrieben.

Hamburg. Es ist ein Buch aus der Hölle. Ein Beweisstück für ihre Existenz. Ein Buch mit einer bitteren Geschichte. Liao Yiwu musste, um es an die internationale Öffentlichkeit zu bringen, im Juli sein Heimatland, die Volksrepublik China, verlassen. Er, der ohnehin unter zermürbender Beobachtung stand, war für den Fall der Veröffentlichung im Ausland mit einem neuen Verfahren und einer langjährigen Gefängnisstrafe bedroht worden. In China sind seine Bücher selbstverständlich verboten.

Inzwischen lebt Liao in Berlin, und S. Fischer bringt das Buch unter die Leute. Sein Titel: "Für ein Lied und hundert Lieder - Ein Zeugenbericht aus chinesischen Gefängnissen".

Das Manuskript für das in der großartigen Übersetzung von Hans Peter Hoffmann 500 Seiten starke Werk ist ein Protokoll schieren Schreckens. Ein Protokoll in eigener Sache. Liao ist in Deutschland durch "Fräulein Hallo und der Bauernkaiser" bekannt geworden - aufgezeichnete Gespräche mit Menschen aus der Unterschicht Chinas. Mit jenen also, denen Maos Revolution und der kapitalistische Umbruch nach dessen Tod nicht die geringste Verbesserung ihrer Situation gebracht hat.

Dreimal musste Liao das Manuskript schreiben, zweimal wurde es von der Staatssicherheit bei Durchsuchungen seiner Wohnung konfisziert, die dritte Niederschrift schließlich haben Freunde außer Landes geschmuggelt. Es ist ein Werk, das man atemlos liest und am Ende erschüttert schließt. Liao unternimmt eine erzwungene, dunkle Reise: vier Jahre Untersuchungshaft, Gerichtshaft und Strafhaft in verschiedenen chinesischen Gefängnissen, wegen eines Gedichts zum Tiananmen-Massaker und wegen des Versuchs, einen Untergrundfilm mit dem Titel "Requiem" zu drehen. Er durchleidet in der Folge ein Haftsystem, bei dem die Gefangenen bis unter die Haut entwürdigt werden, er spart nichts aus, keine intimen, keine abscheulichen Details.

Er sitzt in Zellen mit 16, 20 anderen Häftlingen, die untereinander eine strenge Hierarchie aufgebaut haben, in die er sich bei jeder Verlegung neu einfinden muss. Ein System aus Gewalt, Dreck, Willkür, Hunger und Hoffnungslosigkeit. Im Gefängnis gibt es eine "Speisekarte" der Foltermethoden, mit denen Häftlinge sich andere gefügig machen. Sie könnte aus mittelalterlichen Höllenbildern stammen - eine barbarische Entwürdigungsordnung.

Liao beschreibt, wie sich jede Faser in ihm auflehnt, wie er mit seinem ausgeprägten Ego sich den Kopf blutig rennt, indem er immer wieder auf Menschenrechten und Menschenwürde besteht. Über 100 Verhöre muss er durchstehen, Gewalt gegen den Untersuchungshäftling inklusive. Er notiert akribisch, wie seine Verbindungen nach draußen immer dünner werden, ein Rinnsal der Erinnerung zuletzt, das ständig zu versiegen droht. Zweimal versucht er, sich umzubringen.

Liao notiert, wie aus dem Untergrunddichter, aus dem jungen Wilden, der mit anderen zusammen die Aufbruchstimmung im China vor dem Tiananmen-Massaker 1989 genießt und sie verteidigen will, ein auf die zentralen Überlebensfunktionen zurückgeworfener Häftling wird. Einer, der ständig neue Todeskandidaten in seiner Zelle erlebt, die irgendwann mit einem knappen Namensaufruf zur Hinrichtung abgeführt werden. Er wird geschlagen, schlägt zurück, erlebt die Zwangsmaßnahmen, mit denen die Wärter die Ruhe im Knast sichern: Hochspannungselektroknüppel, Fußfesseln, für viele Tage auf dem Rücken gefesselte Hände. Schläge. Psychoquälerei. Die widerlichen Kampagnen für Selbstanzeigen, die entgegen den Versprechungen zu harten Strafen führen.

Liao protokolliert das mit kühlem Blick und heißem Herzen. Er findet eine Sprache, die alle Ausdrucksmittel zwischen brutaler, explosiver, schmerzhafter Beschreibung und allerzartester Poesie nutzt, die in den Gossenausdrücken der Gefängniswelt ebenso zu Hause ist wie in den Zwischenwelten von Hoffnung und Fantasie. Wir lernen ihn in diesem Buch im Anhang auch noch mit dem bildmächtigen Gedichtzyklus "Liebeslieder aus dem Gulag" kennen - Verse und poetische Verdichtungen von einer Sprachgewalt, die schauern macht.

Liaos Buch ist vieles: auf den ersten 100 Seiten ein erhellender Blick auf die Situation der jungen Intellektuellen rund um den 4. Juni 1989, als der Traum von Freiheit und Demokratie in China unter den Panzerketten der Volksbefreiungsarmee zermalmt wurde. Härteste Anklage durch das fast unerträgliche "Schaut her, so ist es". Es zeigt aber auch, dass im Bodensatz der gequälten Existenzen neue Menschlichkeit und Solidarität wurzeln können.

Liao Yiwu zeigt, wie Widerstand entsteht, wenn der Mensch aufs reine Überleben reduziert wird. Die Machthaber haben ihn entsetzlich leiden lassen. Andere sind noch immer inhaftiert, der Friedensnobelpreisträger und Demokratieaktivist Liu Xiaobo noch bis 2020. Wer diesen Leidensweg durchschritten hat, ist für die heutigen Machthaber ein wissender, ein unnachsichtiger Kritiker. Einer, der nie mehr aufgibt. Liao Yiwu hat dafür einen hohen Preis bezahlt, er schreibt um sein Leben, er schreibt mit seinem Herzblut.

Liao Yiwu: Für ein Lied und hundert Lieder - Ein Zeugenbericht aus chinesischen Gefängnissen. Aus dem Chinesischen von Hans Peter Hoffmann. S. Fischer, 585 S., 24,95 Euro.

Die Lesung in der Buchhandlung Felix Jud am Donnerstag ist ausverkauft.