In keinem anderen Land gibt es mehr Opernhäuser als in Deutschland. Das Buch “Walküre in Detmold“ würdigt vor allem die kleinsten.

Hamburg. Vielleicht ist es wirklich ganz einfach. Vielleicht braucht es wirklich nur genügend Wahnsinn und Leidenschaft, um aus einer Idee, einer Bühne, einem Graben, Licht, Kostümen, Kulissen, Musikern und Musik etwas Übermenschliches und zeitlos Schönes zu formen, das Oper heißt. Stunden und Stimmen, die man im Idealfall ein Leben lang nicht vergisst.

Ein "Fidelio" in Neustrelitz, 1998, für 25 Mark im besten Parkett, war es, der den Journalisten und Freizeit-Opern-Fan Ralph Bollmann in Mecklenburg-Vorpommern auf eine verwegene Idee brachte. Alle, wirklich alle Ganzjahres-Opernhäuser mit festem eigenem Ensemble wollte er besuchen, auf einer Erkundungsreise ins Herz der Republik, an die sich selbst die eifrigsten Profi-Rezensenten noch nicht herangewagt hatten. Zwölf Jahre, ungezählte Reisekilometer und etliche Entdeckungen später endete Bollmanns Musiktheater-Marathon dort, wo er begann: in Neustrelitz, diesmal bei einer "Bohème". Unterwegs hatte er sein Herz für Wagner entdeckt, besonders gern in Häusern, die sich damit trotzig respektlos übernahmen, und für die Barock-Oper, die selbst für die Dresdner Staatskapelle nicht einfach ist, wenn die Musiker damit noch keine Erfahrungen haben.

Platz genug für große, großartige Oper kann überall in Deutschland in der kleinsten Hütte sein. Diese Hütte kann in einem Ab-vom-Schuss-Ort wie Neustrelitz stehen oder in Lüneburg mit 29 (!) Musikern im Orchestergraben, im Erzgebirgs-Städtchen Annaberg-Buchholz oder in Mönchengladbach. Manchmal sieht sie auch so aus.

Dort muss man sich mitunter die eine oder andere Partitur-Nebenstimme dazudenken, weil das Orchesterchen viel kleiner ist, als es sich der Komponist vorgestellt hat. Und der Ehrgeiz des Intendanten, der auch mal einen fetten Wagner oder Strauss im Sortiment haben möchte, damit er was zum Angeben hat vor den Kollegen. Damit endlich echte Kritiker vorbeikommen und nicht nur der pensionierte Oberstudienrat. Ein "Ring" in Detmold mit 60-Mann-Orchester, "Salome" in Ulm mit 56? Das grenzt entweder an Kammermusik oder aber an Wahnsinn.

Doch man sieht, hört und riecht bei jeder Vorstellung förmlich den Bühnenschweiß. Man spürt, dass Kunst hier Leben bereichert und Leben bedeutet. Oft auch Überleben - gegen viele Widerstände als Selbstausbeutung ohne automatischen Tarifausgleich. Die vielen kleinen und ganz kleinen Häuser sind alles Mögliche und Unmögliche: Startrampe oder Endstation für Karrieren, Spielwiese für mutige Experimente mit Repertoire-Raritäten oder Orte dramatischer Selbstüberschätzung, Publikumsliebling oder Resterampe.

Und die Musentempel in den großen Städten Berlin, München, Dresden oder Hamburg, die Prestigeschleudern mit ihren Millionenetats, dem Personal und Umsatz eines mittelständischen Betriebs? Sie sind die sich selbst inszenierenden Ausnahmen der Branche. Wo sie sind, soll oben sein, ist es aber beileibe nicht immer. Wo die Staatsopern mit den teuer gehandelten Namen Hof halten, dort gibt es noble Abendgarderobe, Prestige-Spielchen, das gute alte Sehen und Gesehenwerden. Wer singt, wer dirigiert, wer inszeniert was? Egal. Hauptsache, der Pausen-Champagner ist kalt und die Frisur sitzt. Neidische Blicke sind die Image-Rendite des Kartenpreises, schon seit Jahrhunderten.

Doch die Regel, da geht es der Oper nicht anders als dem Rest des deutschen Alltags, ist und bleibt die Provinz. Die "Parsifal"-Inszenierung in Mannheim ist Baujahr 1957. Geht auch. In der Provinz ist Stadttheater kein Schimpfwort aus überregionalen Feuilletons, sondern Stand der Dinge. Hier gibt es das Kleine, Gemütliche, Direkte, unmittelbar bekannt Menschelnde. Heimat. Heimspiel. Kunsthandwerk. Wo man weiß, dass Perfektion theoretisch toll wäre, praktisch aber auch nicht alles ist. Das Schöne dabei: Der Pulsbeschleuniger-Trick mit der Oper funktioniert mit den richtigen Zutaten ja auch überall. Mit viel Spielgeld ist er oft keine Kunst, sondern gut geölte Veranstaltungsroutine. Mit zu wenig Geld und zu wenig Rückhalt dagegen sehr.

Die Oper wurde immer wieder totgesagt oder als Komapatient abgeschrieben, ist aber in der Kulturnation Deutschland als Kunstform nach wie vor nicht totzukriegen. Nicht einmal von den denkbar dümmsten Politikern und Kulturbanausen. Hierzulande gibt es - allen Etatmassakern zum Trotz - 81 Musiktheater-Standorte, immer noch. 15 allein in Nordrhein-Westfalen. Mehr als 5000 fest angestellte Musiker, über 6000 Vorstellungen pro Jahr. Lüneburg hat knapp 140 Mitarbeiter, Stuttgart zehnmal so viel. Kultur ist mehr als "nur" Kultur, was ja auch schon ein riesiger Wert an sich ist - sie ist ein Standortfaktor. Ein Investment, das sich immer lohnt, aber nicht immer rechnet.

Im gesamten Rest der Welt sind es etwa genau so viele Opernhäuser wie in Deutschland. Dieses Land, in dem jeder auftreten muss, ist das gelobte Land für Sänger. If you can make it there, you'll make it everywhere. Es muss also etwas dran sein an diesem Gefühl, das einen packen kann, wenn das Licht ausgeht, der Vorhang sich hebt und diese Musik einsetzt. Vielleicht sogar etwas typisch Deutsches, obwohl die Wiegen dieser Kunstform zunächst in Griechenland und später in Italien standen. Historisch ist diese Flächenbespielung durch Kleinstaaterei und Prestigedenken gewachsen, oft nur wenige Kilometer voneinander entfernt, eigentlich gefundenes Fressen für kulturblinde Unternehmensberater mit Rotstift im Anschlag.

"Die Reise zu den Opern wird zur Reise in ein unbekanntes Deutschland", schreibt Bollmann am Anfang seines liebenswürdigen Erlebnisberichts. Es sei der Versuch gewesen, "dieses Land kennenzulernen", meint er nun. Ein faszinierendes Psychogramm der Provinz entsteht so, in Ost wie West, in klammen wie in wohlhabenden Regionen. "Theater ist seiner Natur nach öffentlich. Allein das ist an manchen Orten subversiv." Wundern muss er sich immer wieder. Über die Menschen, über die Umstände. Im Laufe der zwölf Reisejahre veränderte sich nicht nur die Theaterlandschaft (hier und da muss sich Bollmann beeilen, drohenden Schließungen zuvorzukommen), die gesamte Republik war im Wandel begriffen.

Es hat etwas Rührendes, dass Bollmann sich die Mühe machte, diesen Kulturgut-Marathon so konsequent durchzuziehen. Aber da er auch Historiker ist, hat er einen sicheren Blick dafür, wie sich Mentalitäten im Umgang mit Kultur auswirken. "Das Besondere an Deutschland ist nicht, dass es mehrere bedeutende Zentren hat. Ungewöhnlich ist, wie viel Wichtiges sich an ganz unwichtigen Orten abspielte." Bollmann beschreibt, was war und was ist, und wie symptomatisch der Zustand dieses weltweit einzigartigen Musiktheatersystems fürs Gemeinwesen ist. "Die Bundesrepublik ist reich, aber unfähig, sich dieses Reichtums zu erfreuen." Und sagt, darauf angesprochen: "Ich habe die Provinz lieben und schätzen gelernt, gerade in dieser Vielfalt."

Ralph Bollmann "Walküre in Detmold: Eine Entdeckungsreise durch die deutsche Provinz". Klett-Cotta, 240 Seiten, 19,95 Euro.