Der Männergesangsverein spielt heute in der ausverkauften Imtech-Arena. Ihre Hits prägten eine ganze Generation - und unsere Autorin.

Hamburg. Schluss gemacht hat er an einem Montag. Am 17. Juli 1995. Es war der erste Tag einer hochsommerlich warmen Woche - und der letzte einer großen Jugendliebe. Rückblick: Ein typisch englisches Backstein-Reihenhaus in Watford, einem kleinen Arbeiterstädtchen im nordwestlichen Speckgürtel Londons. Linda, die 14-jährige Tochter, kommt nach einem langen Schultag weinend nach Hause. "Robbie ist weg", schluchzt sie und donnert ihren Rucksack in die Ecke. Ihre Mutter Sally, die gerade das Abendessen für die vierköpfige Familie und die Gastschülerin aus Deutschland zubereitet, schaut kurz auf: "Welcher Robbie denn jetzt schon wieder? Warst du mit dem zusammen?"

Linda verdreht die Augen, wischt sich die Tränen aus dem Gesicht und nickt der gleichaltrigen Vanessa aus Deutschland zu, die für zwei Wochen mit ihr das Zimmer teilt. Nie haben sich die beiden Mädchen besser verstanden als in diesem Moment. Wortlos, ohne Sprachwirren. Für diesen Schmerz hätte die passende Englisch-Vokabel ohnehin noch erfunden werden müssen.

Denn natürlich war dieser Robbie irgendwie Lindas Freund. Und auch Vanessas. Und der von Millionen Mädchen aus ganz Europa. Der 17. Juli 1995 war der Tag, als Robbie Williams uns alle und die vier Jungs der britischen Boyband Take That verließ. Es war der Tag, als Eltern entsetzt und Sorgentelefone besetzt waren. Als in der Redaktion der "Bravo" eine Hundertschaft von Dr. Sommers tröstende Tipps geben musste, die niemandem weiterhalfen, während Harald Schmidt, der Chef-Zyniker des deutschen Fernsehens, gleich riet: "Pulsadern immer längs aufschneiden."

Einige Monate später, am 13. Februar 1996, löste sich die Gruppe, die ohne Robbie sowieso keine mehr gewesen war, ganz auf. In Dauerschleife spielten die Musiksender "Back For Good", den bis dahin größten Hit der Band. Robbie, Gary, Mark, Jason und Howard verträumt in Wintermänteln im Regen. Die Tropfen im Video waren künstlich, die Tränen der Fans vor den Bildschirmen echt. "I just want you back for good", schmetterten sie. Wir wollten Take That zurück.

Heute ist es endlich so weit.

Vorschau: Die Imtech-Arena in Hamburg. Fast auf den Tag genau 16 Jahre nach jenem Montag im Juli, als Robbie Williams die Band verlassen hatte, tritt die Gruppe erstmals wieder in kompletter Besetzung auf. Die vier braven Buben und der wilde Herzbube. Zehntausende, mittlerweile erwachsene Mädchen werden ihnen zujubeln. Erwachsene Mädchen, die längst keine Zahnspangen mehr tragen, aber auch schon flache Schuhe, der Bequemlichkeit wegen. Die Babysitter angeheuert haben, damit sie heute mal in Ruhe kreischen und mit den Freundinnen Prosecco trinken können. Wie früher. Nur dass es damals Pepsi gab und man nach dem Konzert kein Taxi jagen musste, weil Papa pünktlich vor der Halle wartete. Manche waren da allerdings auch schon vom Notarzt abgeholt worden. "Massenhysterie" zählte in den 90er-Jahren zu den am meisten gebrauchten Wörtern.

Aufregend wie ein Wiedersehen mit der Jugendliebe wird es heute Abend sein. Hat man sich total auseinandergelebt? Kann man noch etwas miteinander anfangen? Ist es diese Neugierde, die die Mädchen von damals, die heute längst Mittdreißiger sind, auf das Konzert lockt? "Es ist eher die Sehnsucht, das Lebensgefühl der Jugend noch einmal zu reaktivieren", sagt der Hamburger Diplom-Psychologe Michael Thiel. "Denn das, was man als Heranwachsender erlebt hat, bleibt für immer im Herzen." Spannend sei aber natürlich auch, was aus den Idolen aus der Kindheit geworden sei.

Vieles weiß der Fan aus den gut informierten Klatschblättern. Mehrheitlich verheiratete Väter werden heute auf der Bühne stehen. Männer zwischen 37 und 43 Jahren, die ein paar Falten mehr im Gesicht haben als früher und ein paar Kilogramm mehr auf den Hüften. Die heute, 15 Jahre und unzählige Entziehungskuren später, nicht mehr mit Whiskey auf die perfekte Choreografie anstoßen werden, sondern mit Milch. Und der Robbie von einst, der will heute nur noch Rob genannt werden. Wir sind eben alle erwachsen geworden, die Jungs aus der Band und die Mädchen von vor der Bühne.

"Progress", Fortschritt, heißen konsequenterweise das aktuelle Album und die Tour, auf der die groß gewordene Boyband eine der aufwendigsten Shows der Popgeschichte verspricht. Es soll, ganz grob, um die Evolutionsgeschichte des Menschen gehen. Und auch irgendwie um die Evolutionsgeschichte von Take That.

1989 hatte der Brite Nigel Martin-Smith, inspiriert vom Erfolg der Bostoner Boyband New Kids On The Block, in einer Regionalzeitung die Anzeige "Singers wanted" geschaltet. Als Erster meldete sich der damals 19-jährige Gary Barlow. Er galt schnell als der beste Musiker, aber auch als ein bisschen bieder. Howard Donald, Jason Orange und der ein wenig androgyne Mark Owen kamen hinzu, ausgewählt nach Talent - und Typus. Alle nett, alle harmlos gut aussehende Schwiegermütter-Träume. Wer fehlte, war der Junge von der Straße. Charismatisch, aber mit proletarischem Sex-Appeal. Eine Rolle, die Robbie Williams, das jüngste Mitglied der Band, spielen sollte. Als Sohn einer alleinerziehenden Mutter hatte der damals 15-Jährige bisher vor allem in deren Kneipe The Red Lion in Stoke-on-Trent mit Karaoke- und Playback-Einlagen die Bargäste unterhalten. Anfangs trat die Boygroup, für deren Finanzierung Manager Martin-Smith sogar sein Haus verpfändet haben soll, in kleinen Klubs auf, später sollte sie Stadien füllen.

Robbie Williams' Talent als Entertainer, auf dem später auch seine erfolgreiche Solo-Karriere basieren sollte, sein exaltiertes Kokettieren und Grimassieren und das vermeintliche Überselbstbewusstsein, machten den Teenager, den seine Mutter Jeanette für das Casting in Manchester angemeldet hatte, schnell zum Star der Gruppe - und zum Idol der pubertierenden Mädchen.

"Die Boybands wurden so zusammen gecastet, dass für jeden Geschmack etwas dabei war", sagt Psychologe Thiel. Denn Teenager-Mädchen - das sei schon in der Hysterie um die Ur-Boyband The Beatles oder auch zu Zeiten von Elvis Presley so gewesen - verstünden sich immer als "Freundin des Stars", während Jungen in der Pubertät selbst so sein wollten wie ihr jeweiliges Idol. Die fünf Briten von Take That seien die "ideale Projektionsfläche" gewesen für die Sehnsüchte und die Wünsche der jungen Mädchen an einen potenziellen Liebespartner. "Doch hätten diese Teenager damals Robbie Williams persönlich getroffen, sie wären enttäuscht gewesen", sagt der Psychologe.

Möglich. Vielleicht. Geglaubt hätte das dem Experten damals aber niemand. Denn Robbie Williams war so unperfekt perfekt wie auf den Postern, die an den Türen der meisten Mädchenzimmer pappten. Die Jungs hatten natürlich auch alle keine Freundinnen, waren beste Freunde, und Alkohol und Drogen waren tabu. Es war eine heile Welt, in der mehr Häschen als Höschen auf die Konzertbühnen flogen. Und eine folgenschwere Inszenierung des Popstars als Kuscheltier, die insbesondere Robbie Williams nur mit Drogen und noch mehr Alkohol aushalten konnte, wie er nach seinem Ausstieg, der eigentlich ein Rausschmiss war, beichtete.

Die Illusion war zerstört, das erste "Verliebtsein auf Probe" im Sommer 1995 vorbei. Man hatte irgendwann kurz darauf den ersten echten Freund, der Take That sowieso "total schwul" fand. Immer noch für eine Boyband zu schwärmen, das wäre noch viel peinlicher gewesen als ein öffentliches Bekenntnis zur Kelly Family. "Dabei hat sich fast jeder von uns doch irgendwann schon mal auf einem Konzert zum absoluten Narren gemacht, auch wenn man das später nicht gern zugibt. Schließlich gilt es nicht gerade als hip, sich wegen einer Popgruppe in die Hosen zu machen", schreibt die britische Historikerin Sheryl Garatt über das Phänomen Boygroup.

Das Robbie-Poster verschwand 1996 aus dem Kinderzimmer, die Songtexte von Take That blieben im Gedächtnis, darunter "Pray", "Relight My Fire" oder das Barry Manilow-Cover "Could It Be Magic". In der Schuldisco wurden Ende der 90er-Jahre Die Ärzte gespielt, man fand Campino von den Toten Hosen auch irgendwie gut, und zu Nirvanas "Smells Like Teen Spirit" saß man cool in der Pausenhalle zusammen. Aber so richtig Bewegung kam erst in die Sache, wenn am späteren Abend plötzlich "Never Forget" aus den Boxen dröhnte. Eine Hymne, die uns durch die Studentenzeit begleitete und bis heute niemals fehlt, wenn ein Mädchen von damals seinen 30. Geburtstag feiert.

"Poesiealbum-Pop", lästerten die Musikkritiker in den 90er-Jahren und belächelten die Boyband, die mittlerweile ein gestandener Männergesangsverein und eine der erfolgreichsten Musikgruppen aller Zeiten ist. Mehr als drei Millionen Mal wurde ihr aktuelles Album "Progress" weltweit verkauft, in Großbritannien ist es das am schnellsten verkaufte Album des 21. Jahrhunderts. Acht Shows vor je 85 000 Menschen, besser Frauen, spielte Take That in den vergangenen Wochen allein im Londoner Wembley Stadion - und brachen damit den Rekord des "King of Pop": Michael Jackson war dort 1988 während seiner "Bad"-Tournee nur siebenmal aufgetreten.

Dass die mittlerweile erwachsenen Mädchen in die Konzerte rennen, die teils binnen eines Tages ausverkauft waren, erzähle viel über die "Happy-End-Sehnsucht" der Fans, sagen Psychologen. Für den Glauben an Märchen und Versöhnung sei man eben nie zu alt.

Robbie hat im Sommer 1995 Schluss gemacht. Am Donnerstag, 30. Juni 2011, war Linda aus Watford im Wembley Stadion, noch einmal mit ihm zusammen. Für einen Abend. Vanessa wird es heute sein. Tausende andere auch. Denn Robbie, Gary, Mark, Jason und Howard are back for good.