Autoren wie die Philosophen Slavoj Zizek oder Robert Pfaller kritisieren unsere genussfeindliche Gegenwart - und plädieren für ein Recht auf Rausch.

Hamburg. Wer sich dieser Tage in Hamburg umschaut, würde unserer Zeit kein Genussdefizit unterstellen. Da sitzen die Menschen im Biergarten oder mit einem lauen Bier in der Hand auf der Schanzen-Piazza herum, sie machen es sich auf dem eigenen Balkon bequem und füllen sich gut gekühlte Weißweinschorle in den Humpen. Aber eine Schwalbe macht bekanntlich keinen Sommer, und eine alkoholische Eskapade unterm Sternenhimmel (mit Kater-Garantie) noch keinen Hedonismus in voller Blüte. Dass die Jetztzeit nicht gerade eine niemals endende Party ist, ist vielen von denen aufgegangen, die über die Gegenwart reflektieren.

Der Philosoph Slavoj Zizek etwa hat gesagt, der Westen genieße nur noch unter Vorbehalt. Man könnte auch behaupten: Er ist lustfeindlich. Überall herrscht Rauchverbot, wahrscheinlich darf man bald nicht nur nicht in U-Bahnen, sondern auch nicht mehr in Parks Alkohol trinken.

Light-Produkte stehen in Supermarktregalen. Fleisch isst bald auch keiner mehr, und beim Sex: Bitte nicht schwitzen. Wir leben immer gesünder, und der Exzess, ausgehbezogener wie kulinarischer Art, steht auf dem Index längst nicht nur moralinsaurer Asketen, sondern aller modernen, aufgeklärten Zeitgenossen. Ein Umstand, der manchen ein Dorn im Auge ist. Der Journalist Peter Richter erklärt in seinem jüngsten Buch "Über das Trinken", warum der durch den Genuss alkoholischer Getränke hervorgerufene Rausch ein Grundrecht ist - er macht Spaß.

Kein Plädoyer für Alkoholismus, sondern eines für einen selbst bestimmten Lebens- und Selbstgenuss: Richters amüsante Trink-Fibel vermittelt das verdammt überzeugende Gefühl, dass Dionysos ein toller Kerl war und die Trinkkultur völlig zu Recht ein wertvoller Bestandteil unserer Wirklichkeit ist. Richters launige Abhandlung über den Sinn des gepflegten Rausches (torkeln, sagt Richter, ist einfach besser als nüchtern gehen) macht aber noch nicht ganz ernst mit der Abrechnung mit der angeblich genussfeindlichen Umgebung.

Das übernimmt der Wiener Philosophie-Professor Robert Pfaller. Sein aktuelles Buch heißt "Wofür es sich zu leben lohnt". Es will nichts weniger sein als die ultimativ kritische Beschreibung postmoderner Lebensumstände, in denen jahrzehnte-, ja jahrhundertelang erprobte Praktiken des "guten Lebens" an den Rand gedrängt werden und im Verschwinden begriffen sind. Was das Gute ist? Für Pfaller der Ausgang aus dem Alltagsleben: im Genuss des Augenblicks, bei einer Zigarette zum Kaffee und einem Bier mit Freunden. Beim bewussten Übertreten von Grenzen, die einem die neoliberale Gesellschaftsstruktur mit ihren ökonomischen Zwängen oft setzt.

Pfaller zitiert den in archaischen Gesellschaften gängigen Imperativ des Feierns, der seiner Meinung nach heute längst in das Gebot der Enthaltsamkeit suspendiert ist. Es herrsche eine Maßlosigkeit im Maßhalten - und genau das mache das Leben weniger lohnenswert.

Der Leitspruch des antiken Philosophen Epikur dient als ewiggültige Formel: "Es gibt auch im kargen Leben ein Maßhalten. Wer dies nicht beachtet, erleidet Ähnliches wie derjenige, der in Maßlosigkeit verfällt."

Was nichts anderes heißen soll als: Leben nach dem Lustprinzip schlägt immer noch alles andere, so lange man nicht einen Leberschaden oder eine Raucherlunge davonträgt. Klingt einigermaßen einleuchtend, und im Hinblick auf den wohligen Schauer, der einem beim Schädigen des eigenen Körpers überkommt, vertritt Pfaller altbekannte Thesen. Wer eine Zigarette raucht, erlebt einen erhabenen Moment, weil es gerade ihre Schädlichkeit ist, die ihren Genuss so sublim macht. Was früher gesellschaftlich nicht nur anerkannt, sondern vorausgesetzt wurde, etwa das gesellige Trinken, ist mittlerweile beinah verpönt. Damit wird die immerwährende Vernunft zum Prinzip erhoben, Lust durch steife Unlust ersetzt, und die Verschwendung von überflüssigen Ressourcen wird ein Ding der Unmöglichkeit.

Dem leidenschaftlichen Einsatz für die Sache des Genusses baut Pfaller ein psychologisches und philosophisches Fundament, Gewährsleute sind Juvenal, Lacan, {Zcaron}i{zcaron}ek und Marx. Letzterer gibt Pfallers Argumentation seine eigentliche Plausibilität. Denn warum sollte die langweilige Vernunft, die in Rauchverboten und Früh-zu-Bett-Gehen mündet, so eine verderbliche Anziehungskraft ausüben, wenn nicht durch die Anforderungen des kapitalistischen, neoliberalen Alltags, der sich die Menschen so zurichtet, wie er sie am effizientesten einsetzen kann?

Wer gesund lebt, der hält das System am Laufen. Marx ist es auch, der Pfaller die schöne Metapher vom Wechsel der "Beleuchtung" liefert. Was eben noch freundlich illuminiert war, sieht in einem anderen Licht plötzlich bedrohlich aus: Genussmittel, Fleisch, Sex. Pfaller betrauert den "Beleuchtungswechsel in unserer Kultur, der unsere besten Genüsse zu unseren Ärgernissen werden ließ". Das bedeute nichts weniger, "als dass wir es innerhalb kurzer Zeit verlernt haben, dasjenige zu schätzen und zu würdigen, wofür es sich zu leben lohnt". "Ideologische Präformierung" nennt Pfaller die Haltung von uns Heutigen, die wir eine üppige Mahlzeit, ein erotisches Abenteuer oder ein Glas Wein für moralisch verwerflich oder kurzsichtig und dumm halten.

Aber ist es denn wirklich so? Ist unsere Gegenwart so langweilig? Sie ist es. Wir sind, im Bereich der Verlautbarungen, Gesetze und Forderungen, auf Diät. Eigentlich spiegelt uns die medial potenzierte Überflussgesellschaft tausenderlei Dinge vor, die wir genießen und konsumieren können. Aber wir versagen sie uns (häufig). Wir sind, um eine populäre Formel zu zitieren, "oversexed and underfucked".

Wir sollten nicht den Tod fürchten, sondern das schlechte Leben, sagt Pfaller. Um so etwas Profanes wie Gesundheit geht es ihm nicht. Es geht ihm auch nicht um den Sinn des Lebens, sondern das Darunter: Wie das Leben nicht sinnhaft, sondern gut ist. Was lernen wir aus Pfallers lesenswerter Parteinahme für all das, was Erwachsenen Spaß macht? Viel über unsere Gegenwart, nicht alles ist neu. Die Pornografiesierung des Pops, die Entzauberung der Welt - alles schon gehört. Die sowohl von Konservativen als auch Linken bewerkstelligte Sterilisierung unseres Alltags schließt das Zwielichtige und den Schmutz aus. Er legt sich wie ein allzu aufregend geschnittener (und deswegen in unserm Bemühen, vernünftig zu sein, vermeintlich nicht kleidsamer) Mantel um jede Partygesellschaft.

Und trotzdem haben wir es natürlich mit einer gefühlten, nicht mit einer empirisch bewiesenen Wirklichkeit zu tun. Die gesellschaftliche Großwetterlage mit all ihren Reglementierungen und Ausschlussverfahren mag auf einen Kulturbruch hindeuten. Feste werden aber immer noch gefeiert, wie sie fallen. Freud hat das das Lustprinzip genannt, das sich am Ende eben doch oft durchzusetzen weiß, und sei es trotzig.

Robert Pfaller: "Wofür es sich zu leben lohnt. Elemente materialistischer Philosophie". S. Fischer. 312. S., 19,90 Euro;

Peter Richter: "Über das Trinken". Goldmann. 224 S., 12,99 Euro