In ihren Kurzgeschichten lebt das Leben. Am Sonntag wird Alice Munro 80 Jahre alt, gilt als Kandidatin für den Literatur-Nobelpreis.

Hamburg. Als 1968 ihr erster Kurzgeschichtenband erschien, war die Kanadierin Alice Munro 37 Jahre alt, und in einer Zeitung ihrer Heimat wurde ihr Debüt unter der Überschrift "Hausfrau findet Zeit für Kurzgeschichten" angekündigt. Seit ein paar Jahren wird die Autorin, die inzwischen ein gutes Dutzend Bücher mit Kurzgeschichten veröffentlicht hat, als Kandidatin für den Literatur-Nobelpreis genannt.

Alice Munro, die als junge Frau drei Kinder und einen Mann versorgen musste, hat sich immer darüber beklagt, dass ihr kaum Zeit zum Schreiben bleibe und dass sie nur deshalb Kurzgeschichten schreibe. Doch welch ein Glück für die Leser. Denn neben ihr gibt es eigentlich keine zeitgenössischen Autoren, die derart präzise, klar und unprätentiös komplexe Empfindungen und Erfahrungen darstellen und so schnell auf den Punkt bringen können. Pointiert, erhellend, zielstrebig rückt sie ihren Figuren und deren Schicksal auf den Leib. Sie beschreibt Alltagsgeschichten, Sehnsüchte und karge Existenzen, häusliche Machtspiele, zwischengeschlechtliche Missverständnisse, Generationskonflikte und Familienaffären, die häufig in der eintönigen Provinz spielen.

Meist sind es Geschichten, deren Besonderheit ein herausragendes Detail ist - ein Blick, ein Satz, eine Geste -, etwas, das alles aufklärt oder zu jenem unbekannten und entscheidenden Punkt führt, an dem sich alles, was danach passiert, verändert. Im Mittelpunkt stehen oft Frauen, die die Familie versorgen, ungeliebte Jobs erledigen, die sich von den Zumutungen des Lebens - freche Kinder, lieblose Männer, beklemmende Pflichten - nicht lösen können. Es gibt keine Helden, keine Dramen, keine welterschütternde Tragik. Doch es gibt Unglück, Sehnsüchte, Enttäuschungen, Aufbegehren, Ausflüchte, das Unstete, das Ungewisse, die Zweifel. Und es gibt die Träume. Inmitten aller Banalität des Alltäglichen leuchten die altbekannten Illusionen auf, die Unerreichbarkeit eines neuen Lebens scheint wie weggeblasen und nicht mehr fern. Jetzt oder nie heißt es für die Figuren Alice Munros. Eine kanadische Literaturkritikerin nennt Munro "unseren Tschechow", denn ebenso liebevoll widmet sie sich dem Vergehen der Zeit. Jonathan Franzen schreibt über sie: "Ihr Thema sind Menschen. Menschen, Menschen, Menschen." Und sie verfüge über "ein pathologisches Mitgefühl für ihre Figuren". Besser kann man's nicht sagen.

"Die Vielfalt der Dinge - die Dinge in den Dingen - scheint endlos", hat Munro einmal gesagt. Sie entdeckt ihre Geschichten in Wohnzimmern, Einkaufszentren, Autos. Und sie beschreibt, was das Leben aus uns macht, mit den Jahren, die verstreichen, den Erfahrungen, die wir machen. "Tricks" heißt einer ihrer Kurzgeschichtenbände, mit einer Titelgeschichte, die so bannend einfach und kühl erzählt ist und die so überraschend endet, dass ein ganzes menschliches Schicksal hineinpasst. Von einer jungen Krankenschwester, die daheim ihre missgünstige Schwester pflegt, handelt eine der Geschichten. Sie verliebt sich eines unverhofften Nachmittags in einen Ausländer und verabredet sich mit ihm, der bald abreisen wird, genau ein Jahr später. Doch an dem herbeigesehnten Tag geschieht ein furchtbares Missverständnis, das sich erst Jahrzehnte später aufklären wird, und sie verfehlt, vielleicht, die große Liebe.

Verpasste Chancen, verstörende Augenblicke, Wahrheiten zur Unzeit ausgesprochen - davon handeln auch die Erzählbände "Tanz der seligen Geister" (Dörlemann Verlag) und "Zu viel Glück" (S. Fischer). Munro möchte wissen, was die Lebensumstände aus ganz normalen Menschen machen.

Mehr oder weniger ist es eine Geschichte, die Munro auf viele Personen verteilt und in unzählige Verästelungen führt. Sie geht so: Ein schlaues, leicht zu begeisterndes Mädchen aus Ontario, dessen Mutter krank oder tot ist, lebt beim Vater, einem Lehrer, und dessen zweiter Frau, mit der das Mädchen ein problematisches Verhältnis verbindet. So früh es kann, flüchtet es vor dem Landleben, ergattert ein Stipendium, heiratet früh, bekommt Kinder. Die Ehe zerbricht. Die junge Frau hat bescheidene Erfolge als Lehrerin oder Autorin, pflegt Liebschaften. Irgendwann kehrt sie nach Ontario zurück und empfindet die Gegend ihrer Jugend verändert fremd. Niemand erwartet sie. Im Gegenteil: Die Sitten ihrer Heimat stehen nun in offenem Widerspruch zu ihrem moderneren, großstädtischen Lebensentwurf. Sie versucht unabhängig und frei zu bleiben, doch ihr Lebensstil fordert große Verluste und Verwerfungen.

Tragikomisch sind diese Geschichten, die Fragen haben und Antworten, aber keine Lösungen. Alice Munro beherrscht die Kunst, das ganz und gar Gewöhnliche, das Durchschnittliche ganz und gar ungewöhnlich zu erzählen: einfach, verständlich und wahr. So wahr, dass man mit diesen Erzählungen mitten im Leben landet.