Menschheit und Atomenergie: “Der Reaktor“ und “Fukushima, mon amour“. Zwei Bücher aus Frankreich beschäftigen sich mit dem heiklen Thema.

Hamburg. In Deutschland werden derzeit die Bilder der Gewinner gezeigt. Sie tragen auf diesen alten Aufnahmen in Schwarz-weiß Parkas und Kutten, Bärte und Plakate: "Atomkraft, nein danke". Im Hier und Jetzt sind die Anti-AKW-Kämpfer von einst in Ehren ergraut, und sie zählen in der Nach-Fukushima-Zeit, in der sich Deutschland nun endgültig von der Energiegewinnung durch Kernkraft verabschieden will, zu den Siegern der Geschichte.

In Frankreich hatte die Anti-Atomkraft-Bewegung noch nie die Breitenwirkung in der Gesellschaft wie in Deutschland. Die ersten literarischen Erscheinungen zum Thema, das seit der japanischen Katastrophe besonders den Deutschen auf den Nägeln brennt, stammen dennoch aus dem Nachbarland: Elisabeth Filhols Roman "Der Reaktor" und Daniel de Roulets literarischer Brief an eine japanische Freundin "Fukushima, mon amour".

Daniel de Roulet, Jahrgang 1944, ist Schweizer und lebt in Frankreich. Seit 1997 ist er hauptberuflich Schriftsteller, einige seiner Titel liegen auch auf Deutsch vor. Er arbeitete als Informatiker und Architekt, und wenn er als Autor mit dem Briefschreiber/Erzähler, der in dem schmalen Büchlein der Freundin Kayoko einen Brief schreibt, identisch ist, hat Roulet eine bewegte Vergangenheit als Atomkraftgegner.

Er berichtet dieser (fiktiven oder realen) Person Kayoko von seiner früheren Arbeit in einem AKW und seinen späteren Protestreisen zu den gefährlichen Energiebeschaffern des Planeten, die seit Tschernobyl Höllenorte der Moderne sind. Das Brief-Ich, das in "Fukushima, mon amour" spricht, ist erregt; obwohl es eine zart mitfühlende Frage an die Adressatin ist, die die transatlantische Post einleitet: "Ich wüsste gerne, wie es Ihnen geht."

Denn abgeschickt werden die Zeilen im März 2011, während die Weltöffentlichkeit auf Fukushima starrt und arme Teufel gegen die Kernschmelze kämpfen. Roulet referiert die Chronologie der Ereignisse, sie beschließt den Band. Über die Beschreibung der eigenen Beklemmung und dem beredt geäußerten Verständnis japanischer Befindlichkeiten ("Unser Unglück geht Sie nichts an") kommt Roulet zum eigentlichen Thema. Er findet den Ton der Entrüstung, den man dieser Tage oft hört, ob auf Bahnhofsvorplätzen oder in Pamphleten. Roulets Büchlein ist eine Anklageschrift gegen die Atomindustrie und ihre Lobbyisten, gewettert wird gegen die Atombehörde IAEA und "die Arroganz der Technowissenschaft".

Der Aufbau dieser Klageschrift ist furios, der Leser wird ganz in den Bann der Argumentation gezogen, die unter dem Eindruck der Geschehnisse ein Bild von äußerster Dringlichkeit zeichnet. Der Autor rekapituliert die Vergeblichkeit des jahrzehntelangen Kampfes ("Aber wir haben verloren und mussten vierzig Jahre lang mit ansehen, wie die runden Kuppeln an Fluss- und Meeresufern errichtet wurden"), und er versteigt sich in einer Geste der Übertreibung zu einem fragwürdigen Vergleich: Konzentrationslager seien "die Momente des Wahnsinns der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und die Atomkraftwerke jene der Maßlosigkeit der zweiten Hälfte". Obwohl er weiß, dass er sich angreifbar macht ("Ich weiß, wie unverschämt es klingen mag"), ist der Autor an dieser Stelle plump und blind für die vorsichtig benutzten Maßstäbe, die wir aus guten Gründen an die Hervorbringungen der Menschheit anlegen.

Daniel de Roulet wurde vor wenigen Jahren einer größeren Öffentlichkeit bekannt, als er in einem literarischen Bericht bekannte, 1975 an einem Brandanschlag auf das Chalet des Verlegers Axel Springer in der Schweiz beteiligt gewesen zu sein. Er habe damals fälschlicherweise geglaubt, Springer sei ein Nazi gewesen. Roulet ist ein Hitzkopf, sein Tun und Schreiben sind, sagen wir: eruptiv, scharf, geübt in der Schule der Empörung.

Wie anders Elisabeth Filhol. Ihr nüchterner und lakonisch erzählter Roman "Der Reaktor" erschien im Original schon 2010, jetzt bringt ihn der Hamburger Nautilus-Verlag auf Deutsch heraus. Auf dem Einband stößt ein riesiger Kühlturm Wolken aus. Der Debütroman der 1965 geborenen Autorin erzählt die Geschichte von Wanderarbeitern, die von Reaktor zu Reaktor ziehen, um diese zu warten. Ihren Stoff fand die Autorin in der Wirklichkeit Frankreichs (und Deutschlands, etc.), wo Tausende gesundheitsgefährdende Arbeiten unter hoher Strahlenbelastung ausführen: Neutronenfutter, Nuklear-Nomaden und Wegwerfarbeiter werden sie genannt. Yanns Freund Loic ist einer von drei Selbstmördern, die es zuletzt unter den Arbeitern des Atomkraftwerks gegeben hat.

Die studierte Wirtschaftswissenschaftlerin erzählt ihrer beider Leben als AKW-Arbeiter: Naturwissenschaftlich genau, wenn es um die Arbeit geht, zum Beispiel um das Austauschen der Uran-Brennstäbe. Die soziologische Beschreibung der Kaste der Wanderarbeiter, die in Wohnwagen wohnen und abhängig sind von der Währung Millisievert (in der ihre Strahlenbelastung gemessen wird), ist so bedrückend wie ihre zweckmäßige Verwendung in den Industrieanlagen mit den erhaben wirkenden Kühltürmen beklemmend, die sich gigantisch und grau in oft blaue Himmel erheben. Man kann Filhols Buch als moralisches lesen, als impliziten Text gegen die Kernenergie. Man kann ihn aber auch lesen als Bericht aus dem Inneren einer Maschine, in der die faszinierende Farbe des Wassers im Kühlbecken, es ist von einem durchdringenden Blau (dank des Tscherenkow-Effekts), mehr wiegt als die Albträume, in denen der Arbeiter im Strahlenschutzanzug durch das Primärsystem des Energie-"Schnellkochtopfs" stampft.

Daniel de Roulet: Fukushima, mon amour. Brief an eine japanische Freundin. Hoffmann und Campe, 48 S., 4,99 Euro; Elisabeth Filhol: Der Reaktor. Nautilus, 128 S., 16 Euro