Kommunist, Freigeist, Zeuge des KZ-Horrors: Am Mittwoch ist der spanische Schriftsteller Jorge Semprún im Alter von 87 Jahren in Paris gestorben.

Hamburg. Als die US-Truppen am 11. April 1945 schon dicht vor Weimar standen, nahmen die Häftlinge all ihren Mut und ihre letzten Kräfte zusammen, griffen zu den lange versteckt gehaltenen Waffen und schossen auf jene SS-Männer, die Buchenwald noch nicht verlassen hatten. Dann öffneten sie das Lagertor und liefen den Höhenzug hinab in Richtung Weimar. Kurz vor Einbruch der Dunkelheit trafen sie auf die ersten amerikanischen Panzer. "Ihre Besatzungen entdeckten zuerst verblüfft, dann, nach unseren Erklärungen, jubelnd diese bewaffnete Bande, diese sonderbaren Gestalten in Lumpen. In allen Sprachen des alten Europas wurden auf dem Ettersberg Worte des Dankes ausgetauscht", schrieb der spanische Schriftsteller Jorge Semprún, der die Häftlingsnummer 44 904 trug und 18 Monate in Buchenwald verbringen musste. Gestern ist er im Alter von 87 Jahren in Paris gestorben.

Semprún war ein Mahner, ein sprachmächtiger Erzähler und ein eigenwilliger politische Denker, der sich jeder Vereinnahmung entzog. Trotz seiner Verhaftung und dem anschließenden Martyrium von Buchenwald blieb er gegenüber Deutschland frei von Verbitterung und wusste immer zwischen Weimar und Buchenwald zu unterscheiden. Er bestand aber darauf, beides in der Erinnerung und im Blick zu behalten. Als er Anfang der 1990er-Jahre erfuhr, dass Weimar europäische Kulturhauptstadt werden sollte, meinte er, dass das für die Deutschen "eine fabelhafte Gelegenheit sei, die Geschichte dieses Jahrhunderts an diesem Ort zu analysieren".

Bei seiner eigenen Analyse stützte sich Semprún stets auf die Erfahrungen seines ebenso exemplarischen wie außergewöhnlichen Lebens: 1923 wurde Jorge Semprún y Maura als Kind einer aristokratischen Familie in Madrid geboren. Sein Onkel war der erste Innenminister der spanischen Republik, nach deren Fall und dem Triumph der Francisten musste die Familie ins Ausland fliehen. In Paris studierte Semprún Philosophie und las die Werke von Marx und Engels in der Originalsprache, die er von einem deutschen Kindermädchen gelernt hatte. Der Faschismus, dem er in Spanien entflohen war, holte ihn in Frankreich mit dem Einmarsch der Wehrmacht ein. Der Student trat dem kommunistischen Flügel der Résistance bei und ging in den Untergrund. Da er die Kommunisten für die konsequentesten Gegner des Nazi-Regimes hielt, wurde er Mitglied der Exilorganisation der spanischen KP. 1943 verhaftete ihn die Gestapo. Er wurde verhört, gefoltert und schließlich nach Buchenwald deportiert.

Nach der Befreiung im April 1945 konnte der überzeugte Kommunist nicht in seine spanische Heimat zurückkehren, denn dort war noch immer General Franco an der Macht. In der KP-Hierarchie stieg er auf, wurde Mitglied im Zentralkomitee und 1956 sogar im Politbüro der Exilorganisation der spanischen Kommunisten. Unter den Decknamen Federico Sanchez und Juan Larrea reiste er unerkannt nach Spanien, wo er die illegalen Aktionen der KP koordinierte.

Es war ein abenteuerliches, ein gefahrvolles Leben. Als er 1960 zwei Wochen lang die konspirative Wohnung in Madrid wegen einer Polizeirazzia des Stadtviertels nicht verlassen konnte, war er auf einmal mit sich und seinen Erinnerungen und Zweifeln ganz allein. So begann er seinen ersten Buchenwald-Roman "Die große Reise" zu schreiben. In dieser Zeit verlor Semprún den Glauben an die kommunistische Heilslehre und geriet auch immer mehr in Konflikt mit der noch immer stramm stalinistischen Parteilinie.

Ausgerechnet Santiago Carrillo, der die Partei später selbst auf moskaukritischen und eurokommunistischen Kurs brachte, diffamierte ihn als "Abweichler". Semprún wurde wegen "parteischädigenden Verhaltens" ausgeschlossen, wäre aber ohnehin ausgetreten. Er zog die Konsequenz und schrieb mit seiner "Autobiografie des Federico Sanchez" eine glänzende Analyse der Situation der Intellektuellen zwischen stalinistischer Parteidisziplin und dem Anspruch auf geistige Unabhängigkeit. Der parteipolitischen Karriere folgte die Schriftstellerlaufbahn. Semprún lebte in Paris und schrieb - zunächst ausschließlich in französischer Sprache - Romane (u. a. "Der zweite Tod des Ramón Mercader", "Die Ohnmacht"), eine Biografie über seinen Freund Yves Montand, Drehbücher und Essays.

Erst nach Ende der Franco-Diktatur 1975 durften seine Werke auch in Spanien veröffentlicht werden. 1988 kehrte Semprún nach Madrid zurück und trat in das spanische Kabinett als Kulturminister ein. Der Sozialist Felipe Gonzáles, der ihm den Posten angeboten hatte, sagte damals in Anspielung auf Semprúns literarisch gewordenen Decknamen: "Federico Sanchez kommt zurück, und wenn er jetzt sieht, wie die Polizei ihn grüßt, wird er feststellen, wie viel sich in Spanien verändert hat."

Bis 1991 blieb Semprún Minister, doch auch in dieser Zeit hat er sich seine geistige Unabhängigkeit bewahrt und selbst dann Kritik an politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen geübt, wenn das politische Kalkül eigentlich Schweigen geboten hätte.

Er war fast 80 Jahre alt, als er mit "20 Jahre und ein Tag" das Buch in seiner spanischen Muttersprache verfasst hat, einen packenden Roman über die Zeit im Untergrund.

Die Beziehung zu Deutschland hat den großen europäischen Intellektuellen bis zuletzt beschäftigt und umgetrieben. Als er 1994 in Frankfurt mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels geehrt wurde, sprach er davon, dass die deutsche Kultur seinen intellektuellen Charakter geprägt habe. "Bei deutschen Autoren fand ich die Waffen der Kritik, die es mir ermöglichten, den Nazismus zu bekämpfen", sagte er in seiner Dankesrede.

Als Jorge Semprún 1992 noch einmal nach Buchenwald zurückkehrte, fiel ihm beim Gang über das Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers auf, dass die Vögel zurückgekehrt waren, "auf die jahrhundertealten Bäume in Goethes Wald, aus dem sie Jahrzehnte zuvor von dem ekelerregenden Rauch des Krematoriums vertrieben worden waren".