“Das Blaue vom Himmel“ ist ein Film über Demenz - immer mehr Bücher und Filme versuchen derzeit, der Krankheit ein Gesicht zu geben

Hamburg. Spätestens als die alte Frau versucht, den Kaffee in einer Bratpfanne zu kochen, ist klar: Mit Marga Baumanis stimmt etwas nicht. Später wird sie das gesamte Geschirr aus dem Fenster werfen - nicht ihr eigenes wohlgemerkt. Und nicht nur der Taxifahrer wird wüst beschimpft werden. Hannelore Elsner spielt in Hans Steinbichlers Drama "Das Blaue vom Himmel" eine Frau, die sich langsam vom Leben verabschiedet und sich nach und nach nicht mehr daran erinnern kann, wie es eigentlich funktioniert, das Leben. Sie vergisst, wie man Kuchen isst, ihre eigene Tochter erkennt sie nicht mehr. Marga hat Demenz. Eine Krankheit, die in einer alternden Gesellschaft immer deutlicher zum Thema wird - und sich dementsprechend, als Spiegel unserer Zeit, auf Kinoleinwänden und Bestsellerlisten wiederfinden lässt.

Nach einer Schätzung der Deutschen Alzheimer-Gesellschaft leben in Deutschland 1,2 Millionen Demenzkranke. Wissenschaftler rechnen mit 115 Millionen Erkrankten bis zum Jahr 2050. Die Angst der Deutschen ist groß vor dem Selbstverlust im Alter, der Entindividualisierung, die sich von allen Seiten anzuschleichen droht. Fast acht Millionen Zuschauer sahen den Demenz-Tatort "Gestern war kein Tag" am Sonntagabend. Bücher zum Thema werden Bestseller, den traurigen Höhepunkt erreichte das neue Gesellschaftsthema Demenz, als sich Lebemann Gunter Sachs Anfang Mai in seinem Schweizer Chalet aus Furcht vor dem geistigen Kontrollverlust das Leben nahm. "Die Angst vor Alzheimer" titelte daraufhin die "Zeit". Und Frank Plasberg fragte in der ARD: "Ist Selbstmord besser als Demenz?"

Aber nicht erst seit dem Selbstmord von Sachs ist es da, das Bedürfnis, der Krankheit in Büchern, Filmen oder Liedern ein Gesicht zu geben. "Ich schließe die Augen, um mit Dir zu sehen. Um Dich zu denken, zu verstehen", singt Herbert Grönemeyer auf seinem aktuellen Album "Schiffsverkehr". "Deine Zeit" hat er für seine alzheimerkranke Mutter geschrieben. Die "ausweglose Krankheit A.", wie sie Gunter Sachs in seinem Abschiedsbrief benannte, konfrontiert plötzlich eine ganze Generation, die ohne Krieg aufgewachsen ist, mit dem Tod ihrer Eltern - oder dem eigenen. Die Krankheit rückt näher. Es sei denn, es wird immer noch nicht darüber gesprochen.

Auch wenn es nicht leicht ist, den geistigen Verfall eines Menschen in Worte oder Bilder zu fassen, wagen sich immer mehr Filmschaffende heran. Der Ex-Hamburger Andreas Kannengießer hat für seinen Film "Vergiss dein Ende", in dem eine Frau an der Pflege ihres demenzkranken Mannes verzweifelt, bereits mehrere Preise gewonnen. Auch für den Studio Hamburg Nachwuchspreis, der am 7. Juni vergeben wird, ist er zweimal nominiert.

Mit "Das Blaue vom Himmel" sind das aktuell zwei Filme, die das wachsende Problem der alternden Gesellschaft auffangen. Vor ein paar Jahren machte uns bereits Julie Christie in Sarah Polleys preisgekröntem Film "An ihrer Seite" auf zauberhafte Weise die Probleme der Demenz in einer Beziehung greifbar. Laura Linney und Philip Seymour Hoffman brachten uns in "Die Geschwister Savage" die Demenz ihres gemeinsamen Vaters näher. Und Iain Diltheys "Eines Tages" ließ die Schicksale mehrerer an Alzheimer erkrankter Menschen mit aller Wucht zusammenprallen. Auch Götz George ("Mein Vater") oder Judi Dench ("Iris") durchlebten ihn bereits im Film, den Verlust der Kontrolle über das eigene Leben.

Jetzt also Hannelore Elsner. Ausgerechnet, möchte man fast sagen. Strotzt die 68-Jährige, die gerade erst ihre Autobiografie herausgebracht hat ("Im Überschwang", Kiepenheuer & Witsch), doch nur so vor Lebensfreude. Die Rolle der demenzkranken Frau scheint nur auf den ersten Blick konträr. Vor wem macht sie schon halt, die "ausweglose Krankheit A."?

Was Hannelore Elsner im Film durchlebt, kennt Schriftsteller Arno Geiger aus seiner eigenen Familie. Seine literarische Bewältigung der Alzheimerkrankheit seines Vaters ist der Bestseller dieses Frühjahrs. Demenz verkauft sich gut: "Ich glaube, es gibt ein sehr großes Bedürfnis danach, einen gelassenen Blick auf Angehörige zu werfen, die schwach sind oder schwach geworden sind", erklärte Geiger jüngst den Erfolg seines Buches. Er nannte es: "Der alte König in seinem Exil".

Zuvor literarisierte US-Autor Jonathan Franzen in seinem Essay "Das Gehirn meines Vaters" das krankhafte Vergessen. Martin Suter brachte das Thema in "Small World" sogar in einem Kriminalroman unter. Der texanische Schriftsteller Stefan Merril Block, 28, erfand in "Wie ich mich einmal in alles verliebte" eine fiktive Form der Alzheimerkrankheit. Nicht unumstritten war Tilman Jens' Buch "Demenz - Abschied von meinem Vater", in dem er seinen kranken Vater, den Literaturhistoriker und Intellektuellen Walter Jens, denunzierte und ihm vorwarf, sich strategisch in die Altersdemenz zu flüchten - um nicht die Verantwortung für seine NSDAP-Mitgliedschaft im Dritten Reich tragen zu müssen.

In Hans Steinbichlers Alzheimerdrama "Das Blaue vom Himmel", das bereits mit dem Bayerischen Filmpreis ausgezeichnet worden ist, geht es letztendlich um viel mehr als lediglich um das Vergessen. Der Film handelt auch vom Erinnern. An die 1930er-Jahre in Riga, die Eingliederung des lettischen Volkes in die UdSSR. Und schließlich auch an die Unabhängigkeit Lettlands im Jahr 1991. Es ist ein politisches und ganz persönliches Mutter-Tochter-Drama, in dem die Krankheit des Vergessens einmal mehr eine Hauptrolle übernimmt. Ein persönlicher Film, auch und gerade für Hans Steinbichler. Kurz vor den Dreharbeiten erkrankte seine Mutter - an Alzheimer.