Als Kind war Gabriele Bruck, 93, einen Tag zu Besuch in der Villa von Emma Budge. Sie erinnerst sich noch heute an das Kindheitserlebnis.

Hamburg. Es muss 1924 gewesen sein, als das damals sieben Jahre alte Mädchen an der Hand seiner Mutter die Villa am Alsterufer betrat. "Ein Dienstmädchen öffnete die Tür, dann ging es hinauf ins Speisezimmer, das im ersten Stock zur Alster hin lag", erzählt Gabriele Bruck. "Es war alles sehr vornehm, das Essen war wunderbar. Ich erinnere mich, dass Rote Grütze mit Sahne serviert wurde. Himmlisch!"

93 Jahre ist die Dame alt, die sich an dieses Kindheitserlebnis erinnert. Doch sie wirkt deutlich jünger. Gabriele Bruck war Tänzerin und Kabarettistin, sie entstammt einer berühmten Hamburger Familie, die Kaufleute, Senatoren, Bürgermeister und einen bedeutenden Architekten hervorgebracht hat. Nun sitzt sie in einem bequemen Sessel am Kaffeetisch im Wohnzimmer einer Stadtvilla an der Heimhuder Straße. Hier hat sie fast ihr ganzes Leben lang gewohnt.

An Emma Budge, bei der sie vor einer halben Ewigkeit zum Mittagessen geladen war, muss sie in letzter Zeit öfter denken, denn natürlich hat sie die Zeitungsberichte über die Restitutionsforderungen der Budge-Erben gelesen. Sie gehört zu den ganz wenigen noch lebenden Personen, die das Budge-Palais, das heute die Musikhochschule beherbergt, noch aus jener Zeit kennen, in der es von der Bauherrin bewohnt wurde.

"Sie war eine kleine und etwas dickliche Dame", sagt Gabriele Bruck über Emma Budge und erzählt, wie ihr ein freundlicher Diener nach dem köstlichen Mittagessen damals die unterirdische Kegelbahn gezeigt hat. Staunend lief das Mädchen auch durch den parkähnlichen Garten, der bis an die Alster reichte. "Ich konnte gar nicht begreifen, dass eine einzelne Person ein so riesiges Haus und Anwesen bewohnte", sagt Frau Bruck, der die Villa mit ihren schweren Teppichen, dunklen Bordüren und dicken Vorhängen ein wenig unheimlich erschienen ist.

Im Wohnzimmer von Gabriele Bruck an der Heimhuder Straße ist der Kaffeetisch gedeckt, behutsam reicht die ältere Dame über das Meißner Porzellan hinüber zu dem in Leder gebundenen Gästebuch. Vor fast genau 100 Jahren wurde es zur Hochzeit ihrer Eltern angelegt.

Beim Durchblättern der leicht vergilbten Seiten begegnen uns die Namen vieler Prominenter, die im Lauf eines Jahrhunderts in diesem Haus zu Gast gewesen sind und vielleicht aus denselben Meißner Porzellantassen Kaffee getrunken haben wie wir an diesem Winternachmittag des Jahres 2011: der Dirigent Hans Schmidt-Isserstedt zum Beispiel, Liselotte Pulver oder Lale Andersen, die mit ihrem Sohn Michael sogar einige Zeit hier gewohnt hat. Am 21. November 1930 hat sich die Hamburger Malerin Anita Rée hier eingetragen, die damals schon antisemitischen Diffamierungen ausgesetzt war. Drei Jahre später nahm sich die jüdische Künstlerin in Kampen auf Sylt das Leben.

Auch Emma Budge musste antisemitische Angriffe ertragen, obwohl sich die Witwe des amerikanischen Multimillionärs Henry Budge dank ihres amerikanischen Passes vor den Nazi-Behörden einigermaßen geschützt fühlen konnte. Worüber mag sie am 17. Dezember 1934 gesprochen haben, als sie - wie eine Eintragung im ledergebundenen Buch beweist - hier im Hause der Eltern von Gabriele Bruck zu Gast war? Hat sie sich damals an diesem Kaffeetisch über die Schikanen der Hamburger Behörden beklagt? Oder erinnerte man sich an bessere Zeiten, als Gabriele Brucks Großvater, der Hamburger Architekt Martin Haller, dem Ehepaar Henry und Emma Budge die großartigste, allerdings auch protzigste Villa baute, die in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts am Alsterufer entstanden ist?

Martin Haller, der Rathausarchitekt, der Erbauer der Laeiszhalle und zahlreicher Hamburger Villen, ist Gabriele Bruck besonders nahe - im wörtlichen wie im übertragenen Sinn. Im Flur hängt sein Ölporträt, an den Wänden ihres Wohnzimmers prangen die kolorierten Zeichnungen seiner Hamburger Bauwerke. Sie erzählt von Besuchen beim Großvater in dessen Haus an der Alsterterrasse, wo sie ihn im Erker antraf, eine Mütze mit Troddeln auf dem Kopf, in die "London Illustrated News" vertieft. "Ich hätte gern mehr mit ihm gesprochen", bedauert die Enkelin, die acht Jahre alt war, als Haller im Oktober 1925 starb. Wirklich kennengelernt hat sie ihn erst sehr viel später, als sie seinen schriftlichen Nachlass sichtete, Tagebucheintragungen las und Erlebnisberichte, und dabei feststellte, dass der berühmte Hamburger Architekt auch anschaulich und fesselnd zu schreiben vermochte.

"Da habe ich auch viel über Emma Budge gefunden", erzählt Gabriele Bruck und sucht einige Kopien der Erinnerungen des Großvaters hervor. Dann reicht sie einen Text über den Kaffeetisch, den Martin Haller wenige Jahre vor seinem Tod verfasst hat - und der bisher noch nicht veröffentlicht wurde (siehe Artikel nebenan).

Martin Haller, meint seine Enkelin, habe manche der immer neuen Sonderwünsche der Emma Budge bei dem Bauprojekt zwar mit Kopfschütteln zur Kenntnis genommen, sie aber dennoch immer erfüllt. Und der sich ein Jahrzehnt lang hinziehende Bauauftrag führte schließlich auch dazu, dass sich zwischen der Bauherrin und der Familie des Architekten eine freundschaftliche Beziehung entwickelte. Sonst hätte Emma Budge Martin Hallers Tochter und Enkelin 1924 auch kaum zum Essen geladen - und Gabriele Bruck hätte die legendäre Hamburger Prachtvilla niemals von innen gesehen.