Bei “Sacre 3D“ wird aus Kampnagel zwei Abende lang ein Labor für Zukunftskunst zwischen Realität und Virtualität.

Kampnagel. Die Brille lässt auf einen Hypernerd tippen. Glänzend schwarz ist sie, geschwungene Gläser, ihre Bügel so imposant wie die Haifischflossen alter amerikanischer Straßenkreuzer. Hinter einem solchen Gestell steckt immer ein exzentrischer Kopf. Er gehört dem Wiener Multiartisten Klaus Obermaier, 55, der heute und morgen auf Kampnagel mit der Tänzerin Julia Mach und dem NDR Sinfonieorchester unter der Leitung der chinesischen Dirigentin Xian Zhang eine aufregend eigene Version der wohl berühmtesten Ballettmusik des 20. Jahrhunderts präsentiert: den "Sacre du printemps" von Igor Strawinsky.

"Sacre 3D" nennt Obermaier seine Vision. Nun ist Dreidimensionalität dem Genre eingeschrieben, Tanz ist immer Körper im Raum, Musiker auf einem Podium sind es auch. Aber das Publikum muss trotzdem die am Eingang ausgehändigten 3-D-Brillen aufsetzen. Denn Obermaier filmt auf der 4,5 mal 4,5 Meter kleinen Bühne mit zwei Stereokameras die Bewegungen der Tänzerin. Dann schickt er die Signale in einen speziell für diese Produktion programmierten Rechner und projiziert auf eine über dem Orchester aufgespannte Leinwand die vom Computer als "digitalem Performance-Partner" (Obermaier) in Echtzeit generierten 3-D-Bilder des Tanzes. Dies ist der sehr laienhafte Beschreibungsversuch eines bestimmt viel komplizierteren technischen Vorgangs, den Obermaier gemeinsam mit dem Ars Electronica Futurelab Linz gestaltet und entwickelt hat.

Aber auch wenn sich Obermaier - ausgebildeter Konzertgitarrist, abgebrochener Kunststudent und einst Musiker in vielen österreichischen Bands - schon seit mehr als 20 Jahren die jeweils modernsten computertechnischen Möglichkeiten zur Realisation seiner Ideen zunutze macht und damit immer wieder in unbekanntes Terrain vorstößt: In erster Linie bleibt er Künstler. Deshalb darf man auch im Informatikgrundkursus eine Niete gewesen sein und kann sein Werk dennoch goutieren.

Allerdings interessiert Obermaier die archaische "Sacre"-Geschichte vom Mädchen, das in einem heidnischen Ritual dem Frühling geopfert wird, kein bisschen. Der Elektronik-Pionier mit dem engelblonden Stoppelhaar, das aussieht wie mit Wasserstoffsuperoxyd gefärbt, hat Strawinskys Frühling für sich als große Metapher für das Künftige übersetzt, für die in die Gegenwart hineinlappende allernächste Zukunft: "Wie wir mit digitalen Welten kommunizieren, wie sich das Verhältnis real-virtuell, Fakt-Fake gestalten wird, das wissen wir noch nicht. Für manche Leute ist das beängstigend."

Obermaier stellt der heute wie zur Zeit der Uraufführung vor beinahe 100 Jahren gleichermaßen elektrisierenden, rhythmisch ungemein bewegten Musik ein System aus Zeichen an die Seite, mit denen Julia Mach fürs Auge unlesbar, doch sichtbar für die computergestützten Kameras, die imaginären Wände ihres Tanzkäfigs beschriftet. Im Verlauf der Aufführung vollzieht sich im Gestenvokabular der Tänzerin eine Metamorphose von der Glagoliza, der ältesten slawischen, also Strawinskys Kulturraum zugehörigen Schrift, bis zum hexadezimalen Code, dem auf 16 Zeichen basierenden Zählsystem für Informatiker. "Am Schluss bleiben nur noch Pixel", sagt der ideenreiche Selfmade-Choreograf.

Wenn aber der Weg von der alten Schrift zum digitalen Code immer noch eine Art Leidensweg ist, ein Opfertanz: Muss man "Sacre 3D" dann nicht als Zivilisationskritik lesen? Obermaier guckt viel zu vergnügt in die Welt, als dass er zu den Zukunftsängstlichen gehören könnte: "Diese virtuelle Welt ist genauso menschengemacht wie die Stühle und der Raum, in dem wir hier sitzen. In meinen Stücken benutze ich nie den pädagogischen Zeigefinger."

Sieben Instrumentalisten des Orchesters sind zudem mit dem Computer verbunden. In einigen Passagen bestimmt ihre Dynamik, ihre Artikulation die Bilder mit. So entsteht noch eine weitere interaktive Ebene zwischen Musik, Tanz und dem Bild vom Tanz.

Man muss gesehen haben, mit welcher poetischen Virtuosität diese Bildkunst den in 3-D reproduzierten Körper der Tänzerin fragmentiert, vervielfältigt, atomisiert. Einmal scheint Julia Mach sich in lauter Sternpunkte aufzulösen. "Da ist nur gerade ihr Körper explodiert", sagt Obermaier fröhlich.

Sacre 3D, heute und morgen, jeweils 20.00 Kampnagel (Bus 172, 173), Jarrestraße 20, Restkarten zu 15,- bis 35,- (erm. 7,50 bis 17,50) an der Abendkasse