Jette Steckels packende und vielschichtige Inszenierung von Schillers “Don Carlos“ eröffnet die Lessingtage am Thalia-Theater.

Hamburg. "Wir müssen, müssen Freunde sein." Mit dem "Nathan"-Zitat gibt Thalia-Intendant Joachim Lux in seiner Eröffnungsrede die Losung für die Lessingtage aus. "Ob wir wollen oder nicht, wir müssen uns innerstädtisch wie weltweit dem Spannungsbegriff Freundschaft stellen", appellierte Lux an Politik wie Publikum - und erntete Beifall. Die schulmeisterlichen, die Situation humorlos ignorierenden Versuche des Zweiten Bürgermeisters Dietrich Wersich, Lux eifrig beizupflichten und die "Ring-Parabel" zu strapazieren, provozierten dagegen Häme und Gelächter. Das politische Satyrspiel des CDU-Senators sorgte bereits vor der Tragödie für unfreiwillige Heiterkeit und leitete nahtlos zum Start von Jette Steckels "Don Carlos"-Inszenierung über, die weitaus wortmächtiger und pointierter war.

An einem Protestschild strichelnd macht sich der Prinz (Mirco Kreibich) über den intriganten Hofschranzen Domingo lustig. Er verweigert die Übernahme der Rolle und damit den Einstieg ins mörderische politische Machtgeschäft. Er zwingt den hilflos plappernden Pfaffen sogar, seinen Dialogpart zu übernehmen. Den Möchtegern-Regenten spielt Victoria Trauttmansdorff in päpstlich roten Prada-Slippern genüsslich als tückische kardinale Karikatur aus. Auftritt Posa. Mit dem Kumpel gemeinsames Spiel zu machen, dazu ist der Königssohn sofort bereit. Er umarmt ihn stürmisch und beichtet ihm seine hoffnungslose Leidenschaft für die Stiefmutter.

Klar setzt Steckel die Fronten in ihrer texthellen Inszenierung zwischen Florian Lösches schwarzen, sich drehenden Wandschirmen, die wie Räderwerk ineinandergreifen. Die 28-jährige Regisseurin gibt ihr auch eine deutliche Stoßrichtung mit Julian Assanges Polemik gegen die "schlechten Regierungen". Sie setzt den Gedankenfreiheit fordernden, so gar nicht wie ein Marquis auftretenden Posa wie ein Virus ins Getriebe der Machtmaschinerie des Despoten Philipp. Jens Harzers Posa könnte Internet-Hacker oder WikiLeaks-Journalist sein. Er trägt die Anzugsjacke im Plastiksack und hat ein lässig-unverschämtes Auftreten, der Charme des Hasardeurs verunsichert und fasziniert gleichermaßen Carlos, Philipp - und das Publikum. Harzer gelingt das Meisterstück, Schillers gebundene Sprache im Ton heutig über die Rampe zu bringen und zugleich ihre dichterische Kraft und Schönheit leuchten zu lassen. Verdienter Jubel für die Bravourleistung am Schluss.

Auch die Kollegen präsentieren sich in Hochform. Hans Kremer zeichnet Philipp als eiskalten Taktiker mit aasigem Lächeln und einer verzweifelten Sehnsucht, einem Menschen vertrauen zu können. Sein Treffen mit Posa, der Disput mit dem schonungslos offenen Kritiker gehören zu den Höhepunkten des Abends. Nach dessen Verrat und dem Mord am falschen Freund durch einen erschreckenden Schuss aus dem Nichts hängt Kremer beinahe wahnsinnig stammelnd im Wandgestänge, um dann die untreue Gattin und Carlos dem (katholischen) Geheimdienst-Killer auszuliefern. Die Hände in den Hosentaschen, trifft André Szymanski gezielt mit Worten und dann mit der Pistole im blutigen Finale.

Mirco Kreibich ist ein knäbisch nervöser, seinen Gefühlen ausgelieferter Sohn, dem Posa mehrfach das wirre Haar väterlich aus der Stirn streicht. Die Liebe zu Elisabeth (Lisa Hagmeister), Eifersucht und Hass auf den Vater bringen Carlos um den Verstand, reißen ihn zu Impulsivhandlungen hin - wie das naiv-spielerische Flamenco-Tanzen mit der Prinzessin Eboli (eine erotische Herausforderung in roter Rüschenrobe: Alicia Aumüller). Hagmeisters zerbrechliche Königin dagegen, gepanzert im Mieder ihres schwarz-weißen Pfauenkleides (Kostüme: Pauline Hüners) schwankt zwischen Gefühl und Pflicht.

Ihr erstes heimliches Treffen mit Carlos zeigt Jette Steckel aus der Sicht einer Kamera - projiziert auf die Wandschirme. Die Regisseurin platziert die Anspielungen und Parallelen zum modernen Überwachungsstaat in ihrer Inszenierung so beiläufig wie unübersehbar, konzentriert sich vielmehr auf den Szenenverlauf im Inner Circle des Machtzentrums. Sie entlarvt im Familiendrama aber auch die Übermacht einer sich verselbstständigenden Regierungsmaschinerie.

Jette Steckel glückt es, in Schillers dramatischem Gedicht ohne platte Aktualisierungsversuche den gültigen Kern einer um Freiheit und Humanität ringenden Menschheit herauszuschälen. Sie verleiht dem 1787 in Hamburg uraufgeführten Werk eine schillernde Gegenwärtigkeit, erhält dem Abend dank der bisweilen atemberaubenden Präsenz der Schauspieler einen unangestrengt wirkenden Spannungsbogen über knapp vier Stunden. Die Tragödie einer Freundschaft wird zum fesselnden wie auch programmatisch akzentuierten Auftakt des zweiwöchigen, mit 50 Veranstaltungen, Inszenierungen und internationalen Gastspielen aufwartenden Lessing-Festivals - und erhielt rauschenden Applaus.

Thalia-Theater, Karten T. 32 81 44 44