“3nach9“-Moderation, neues Buch: Was die einstige EKD-Ratsvorsitzende Margot Käßmann alles aus ihrer wiedergewonnenen Freiheit macht.

Berlin. Wer Margot Käßmann nach dem Leitsatz ihres Lebens befragt, dem antwortet die ehemalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche gern mit Psalm 31: "Du stellst meine Füße auf weiten Raum." Und tatsächlich hat sie sich ja nicht lange einengen lassen. Auch nicht durch die brennende Scham, der sie vor einem Jahr durch einen rasanten Rücktritt beikam.

Mit dieser Entscheidung hat sich der Raum für Margot Käßmann tatsächlich geweitet. Nichts scheint unmöglich für die inzwischen 52-Jährige, die die Kirchen mühelos füllt, wenn sie denn einmal predigt, wie Anfang Januar in Berlin. Oder wenn sie in Bochum, wo sie jetzt eine Gastprofessur innehat, Vorlesung hält: Da strömten zum Auftakt 1800 Menschen ins Audimax, um zu hören, was die Theologin zum Thema "Multikulturelle Gesellschaft - Wurzeln, Abwehr und Visionen" zu sagen hatte. Kein Wunder, dass sich Radio Bremen glücklich schätzt, Margot Käßmann für den 13. Mai als Co-Moderatorin für die Talkshow "3nach9" gewonnen zu haben (als Ersatz für Judith Rakers, die den Eurovision Song Contest moderieren wird). Redaktionsleiter Helge Haas begründete die überraschende Entscheidung seines Senders damit, dass sie zu der Haltung passe, die man in "3nach9" vertrete. Und Margot Käßmann selbst meinte am Montag, zu diesem Angebot habe sie einfach nicht Nein sagen können.

Am Dienstag, also gestern, stellte sie in Berlin ihr neues Buch vor: "Sehnsucht nach Leben". Der Titel sagt schon alles über das Mutmacherprogramm einer Frau, die nach einem Ausrutscher - der "Alkoholfahrt" vom 20. Februar 2010 - vor den Trümmern einer außerordentlichen Karriere gestanden hat und sich danach gewissermaßen noch einmal neu erfinden musste. Wenn man so will, ist das Buch eine Anleitung zum Glücklichsein in zwölf Kapiteln. Denn neben der allgemeinen Sehnsucht nach Leben - "Wenn Aufbruchstimmung in uns aufkommt, müssen wir sie nicht zwanghaft unterdrücken" - geht es auch um die Sehnsucht nach Stille, Heimat, Mut, Kraft, Freiheit und Frieden, nach einem Engel, nach Gott, Trost, Geborgenheit und Liebe.

Man kann das 170-seitige Buch (adeo-Verlag, 17,99 Euro) als allgemeine Ermutigung begreifen, den Traum von einem erfüllten Leben nicht länger zu ignorieren, ausgetretene Pfade zu verlassen, mit lähmenden Gewohnheiten Schluss zu machen, ein Scheitern als Möglichkeit für einen Neuanfang zu begreifen. Hinzuschauen statt wegzublicken. Als Seelsorgerin kennt Käßmann alle Ängste und alle Ausreden, die den Menschen an seiner Selbstentfaltung hindern. Sich selbst nimmt sie dabei nicht aus. Im Kapitel "Sehnsucht nach Freiheit" beschreibt Käßmann, wie sie in ihrer Doppelfunktion als Bischöfin und Ratsvorsitzende, also auf dem Höhepunkt ihrer Karriere, irgendwann völlig erschöpft gewesen sei. Und zutiefst deprimiert angesichts eines völlig verplanten Lebens. "Dazu kam ein großer Druck: Was darfst du in dieser Situation an persönlicher Meinung von dir geben? Du sprichst ja schließlich auch im Namen der Kirche, du wirst als Amtsperson angesehen. Da wird jedes Wort auf die Goldwaage gelegt, und Journalisten warten nur darauf, ob du eine Nuance abweichst von den offiziellen Texten. Das wird dann sofort gedeutet, der Kritik ausgesetzt. Und das geht hin bis zu deiner Kleidung ..." Damals, so Käßmann, habe sie "eine unendliche Sehnsucht nach Freiheit" verspürt. Wie man heute weiß, hat sie sich diese Freiheit aber erst mit ihrem Rücktritt zurückerobert.

Man muss kein Christ sein, um sich Käßmanns Freiheitsbegriff anzuschließen, der sich an den Prinzipien der europäischen Aufklärung orientiert. Aber weil Käßmann Christin und Lutheranerin ist, geht es ihr natürlich auch oder vor allem um die Freiheit eines Christenmenschen. Um "die Freiheit von Gesetzlichkeiten, die nicht hinterfragt werden wollen, die keine Diskussionen zulassen, die Autorität beanspruchen, indem sie autoritär sind". Eine solche Freiheit sei "Freiheit zu etwas", schreibt Käßmann, die Freiheit zur eigenen Rede mit Gott, zum Engagement für eine bessere Welt: "Eine solche Freiheit ist eine Lebenshaltung. Sie kommt aus dem Glauben heraus, von innen her."

Margot Käßmann bekennt freimütig, sich nach den Veränderungen in ihrem Leben - Krebserkrankung, Scheidung, Karriereknick - niemals gesehnt zu haben. Im Gegenteil. "Hätte ich vorher gewusst, welche Brüche im Leben auf mich zukommen würden, wäre ich ihnen wohl ängstlich ausgewichen." Vielleicht, fügt sie hinzu, gehe es aber genau darum. Denn "Veränderung bedeutet immer auch Lebenstiefe".

So gesehen ist "Sehnsucht nach Leben" nicht nur eine Ermutigung zu einem besseren und freieren Dasein, sondern auch ein Trostbüchlein für alle unter uns, die zuweilen Angst vor der eigenen Courage haben.