In der neuen Novelle “Freitisch“ des gebürtigen Hamburgers Uwe Timm erzählen sich reifere Herren vom harten Brot der frühen Jahre.

Hamburg. Jede Generation braucht einen, der für sie spricht. Und zwar nicht nur in der Politik, wo die Verteilungskämpfe zwischen unterschiedlichen Jahrgängen durchaus vorkommen sollen, sondern auch im gesellschaftlichen Zwiegespräch, das seinen Ort oft auch in der Literatur findet.

Die eigene Biografie hat Uwe Timm einen reichen Fundus an Erlebnissen bereitgestellt, aus dem der 70-Jährige nur zu gerne schöpft. Man kann mit Timm durch die Lebensalter der 68er streifen, weil er ihnen selbst zu verschiedenen Zeiten einen Besuch abgestattet hat: In "Heißer Sommer" (1974), "Kerbels Flucht" (1980), "Rot" (2001) und "Der Freund und der Fremde" (2005). Mit seiner neuen Novelle "Freitisch" kehrt Timm in die prägende Zeit seiner Generation zurück.

Freilich eher in die Inkubationsphase der Studentenbewegung denn in ihr wildes Zentrum. Das als Novelle deklarierte neue Prosastück spielt vordergründig in der mecklenburgischen Provinz, wo sich ein namenlos bleibender Ich-Erzähler und ein Unternehmer nach Jahrzehnten zufällig wieder begegnen. Eigentlicher Ort der Handlung ist das München der frühen 60er-Jahre. Also die Stadt, in der der sanfte Hamburg-Skeptiker Timm selbst seit über 50 Jahren lebt. Der Ort, an dem das Brodeln von 1967/68 nicht unbedingt den, aber einen Ursprung hatte.

Zum Beispiel in gelösten Happenings mit ziemlich quatschiger Aussage, wie sie in Schwabing über die Bühnen verrauchter Kellerräume gingen. Timm beschreibt sie parodistisch, und locker im Ton gehalten ist sein ganzes Buch. Gerne wühlt er in der "Grabbelkiste der Vergangenheit", wie es an einer Stelle heißt. Nicht jeder erinnert sich so gerne wie ein der Vergangenheit verpflichteter Schriftsteller; automatisch identifiziert man Timm mit dem Lehrer, der dort in Anklam seine Pension verzehrt und, natürlich, einen antiquarischen Buchladen betreibt. Dem anderen, Euler genannt, ein Mathematik- und Literaturstudent damals, fällt die Erinnerung nicht so leicht. Er erkennt den Gefährten von einst zuerst gar nicht. Es dauert eine Zeit, bis er auf der Höhe des Gesprächs ist, das die Erzählung strukturiert. Aber dann war ihm "der Gedächtniskoffer aufgesprungen und nun quoll alles Mögliche heraus".

Ebendas, was sich die reiferen Herren in gediegener Atmosphäre erzählen: Der eine hat mehr zu sagen, der andere weniger. Der eine trinkt Cappuccino, der andere Weizen. Früher gab es Essen in der Kantine eines Versicherungsunternehmens, es spendierte den Studenten damals den "Freitisch".

Als das Leben noch vor ihnen lag, erlaubten sich die Herren Studenten, die sich selbstverständlich siezten, einen besonderen Spleen: Sie fanden Arno Schmidt, den kindischen und großen Autoren, ziemlich gut. So gut, dass sie sogar zu einer Reise zu dem eskapistischen Alten aufbrachen und ihn in Bargfeld besuchten.

Schön ist der Widerstreit der Mentalitäten, wenn man das so sagen kann. Nicht jeder erinnert sich gerne zurück, und so ist das Aufeinandertreffen der beiden Männer von Anziehung und Abstoßung gekennzeichnet. Wenn sich (beinah) ein ganzes Leben zwischen die Jungen von einst und die Alten, die sie geworden sind, legt, hat man alte Bezugspunkte, aber keine neuen Gemeinsamkeiten. Timms Motivgeflecht ist klug gewählt: Dem Erzähler, dem Bücher-Fan und Bewahrer, steht Euler gegenüber - ein Mann, der mit einem Konzept zur effektiven Müllentsorgung reich geworden ist. Ins mecklenburgische Paradies des Erzählers ist er nur gekommen, weil er eine riesige Mülldeponie bauen will. Als die Vergangenheit besprochen ist, klopft man sich auf die Schultern, ein wenig mehr Nähe also als das Händegeben am Anfang der Begegnung. "Wir sehen uns, sagte er und ging zum Parkplatz hinüber. Hoffentlich nicht in dieser Stadt, dachte ich."

Wer Erinnerungen doch ein klein wenig lieber entsorgt als sie zu pflegen, wer nicht gerne an die Vorwelt des Früher denkt, der ist dann nicht willkommen, wenn wir so aufrichtig wie möglich und umfangreich wie nötig unsere Biografie schreiben.

Uwe Timm: "Freitisch". KiWi, 136 S., 16,95 Euro. Lesung am 8.3. im Literaturhaus: ausverkauft