Die gebürtige Türkin Shermin Langhoff ist die Theatermacherin der Saison. Für ihre Multikulti-Stücke wird sie am Sonntag ausgezeichnet.

Hamburg. Seit 2008 ist die Deutschtürkin Shermin Langhoff, 42, künstlerische Leiterin des Berliner Ballhaus Naunynstraße - des Theaters der Saison. Die nur 102 Plätze der kleinen Kreuzberger Hinterhofbühne sind fast immer ausgebucht. Auch in Hamburg konnte man das Ballhaus Naunynstraße neulich sehen. Im Rahmen der Lessingtage, da kam Nurkan Erpulats Erfolgsinszenierung "Verrücktes Blut" auf ein Gastspiel vorbei. Vorige Woche gab es dann den Ritterschlag: "Verrücktes Blut" wurde zum Berliner Theatertreffen eingeladen. In dem Stück zwingt eine Lehrerin ihre renitente Klasse mit vorgehaltener Waffe dazu, Schiller zu lesen. Die Produktion bedient sämtliche Klischees über Integrationsverweigerer und parodiert sie zugleich.

Langhoff wurde 1969 in der Türkei geboren, als Neunjährige kam sie nach Nürnberg. Sie arbeitete als Produzentin und Regieassistentin unter anderem bei Fatih Akins "Gegen die Wand" (2003). Sie kuratierte vier Jahre am Berliner Hebbel-Theater, entwickelte zwei interkulturelle Festivals. An diesem Sonntag erhält sie im Hamburger Schauspielhaus den Kairos-Preis der Toepfer-Stiftung, mit 75.000 Euro einen der höchstdotierten europäischen Kulturpreise.

Abendblatt: Sind Sie zufrieden damit, wie das Thema Migration am deutschsprachigen Theater gehandhabt wird?

Shermin Langhoff: Das deutsche Theater ist eben besonders deutsch im Gegensatz zu den anderen Künsten. Im Vergleich zu Großbritannien oder Frankreich hinken wir in Deutschland um Jahrzehnte hinterher, was die Selbstverständlichkeit von Transkulturalität angeht. Theaterkünstler mit sogenanntem Migrationshintergrund sind immer noch eine Ausnahme. Natürlich erschwert diese Ausgangslage auch die künstlerische Auseinandersetzung mit dem gesellschaftlichen Konfliktfeld, das um die politischen Kampfbegriffe Migration und Integration entstanden ist, ungemein.

Wie erlangt Theater, das sich mit dem Thema Migration befasst, überregionale Aufmerksamkeit?

Langhoff: Was braucht denn Theater, das sich mit Konfliktzonen von emotionaler Zerrüttung bis zu Wirtschaftskrisen befasst, um überregionale Aufmerksamkeit zu bekommen? Spannende Stoffe und gute Inszenierungen mit guten Schauspielern. Punkt.

Sie wollten Ihr Theater "neues deutsches Theater" nennen, entschieden sich dann für "postmigrantisch". Warum?

Langhoff: Wir haben uns das Label postmigrantisch gegeben, weil wir einer Konstruktion von außen vorbeugen und uns in ein kritisches Verhältnis zur bisherigen Rezeption von migrantischem Theater setzen wollten. Nicht zuletzt geht es aber auch um Geschichten und Perspektiven derer, die selbst nicht mehr migriert sind, diesen Migrationshintergrund aber als persönliches Wissen und kollektive Erinnerung mitbringen. Darüber hinaus steht postmigrantisch in unserem globalisierten, vor allem urbanen Leben für den gesamten gemeinsamen Raum der Diversität jenseits von Herkunft.

Was braucht ein Theater, um alle Bürger mitzunehmen?

Langhoff: Offenheit, Partizipation und alte wie junge, neue Akteure. Zu uns kommen sowohl sogenannte theaterferne Zuschauer aus den Kreuzberger und Berliner Communitys als auch sogenanntes klassisches Theaterpublikum. Die Mischung macht's. Man darf eben nicht paternalistisch denken, dass sogenanntes theaterfremdes Publikum nur mit Boulevard-Elementen oder Betroffenheitsgeschichten gelockt werden kann. Nicht für oder über die Menschen sprechen, sondern mit ihnen ist der Weg, den wir versuchen zu gehen. Auch erlauben wir uns eine große Diversität der Ästhetiken und Handschrift. Neben feuilletonistischen Erfolgen wie "Verrücktes Blut" von Nurkan Erpulat steht das communityorientierte Dialogtheaterfest oder die Erstinszenierung eines Filmregisseurs.

Die Stücke in Ihrem Theater beruhen auf Interviews, Recherchen und den Biografien der Darsteller. Wie entkommen Sie dem Paradox, Geschichten "mit Migrationshintergund" zu zeigen und zugleich darauf reduziert zu werden?

Langhoff: Manche unserer Stückentwicklungen beruhen auf Interviewrecherche, aber wir wollen niemandem authentische "Kanakenstories" vorspielen. Die "Schwarzen Jungfrauen" sind eine deutsche Subkultur und nichts Importiertes. Jahrzehntelang wird Menschen die Teilnahme am öffentlichen Leben verweigert, weil sie einen anderen Hintergrund haben. Dann stellt man sich plötzlich hin und will das "typisch Deutsch-Türkische" isolieren. Dieser Blick nervt, egal, ob er von Verachtung oder Begeisterung für das Andere getragen wird. Wir sind doch längst weiter: Es ist eine hybride Kultur entstanden, die die versteinerten Verhältnisse zum Tanzen bringt.

Können Sie sich vorstellen, auch Büchner oder Goethe in Ihrem Haus zu zeigen?

Langhoff: Büchner ist einer meiner Helden. Natürlich müssen wir noch ein wenig darum kämpfen, auch als ein Theater wahrgenommen zu werden, das sich klassischer Stoffe annehmen könnte. Aber wir können uns für die vierte Spielzeit durchaus einen kanonischen Theaterstoff im deutsch-deutschen, bindestrichlosen Gewand vorstellen.

Sie haben ja viele Jahre beim Film gearbeitet. Ist der Film dem Theater voraus?

Langhoff: Fatih Akins Erfolg steht neben dem internationalen Durchbruch eines deutschen Regisseurs auch für das spannende filmische Schaffen einer Generation von Almanci, also Deutschländern, die wir im Herbst mit einer Retrospektive ehren wollen. Das Theater ist elitärer und weißer, aber gerade das macht es zu einem faszinierenden Auseinandersetzungsfeld.