Das exzentrische Künstlerpaar Gilbert & George zeigt in Hamburg seine “Jack Freak Pictures“ - ein virtuoses Spiel mit Stereotypen.

Hamburg. "Zuerst kam der Freak, dann der Jack": Gilbert von Gilbert & George erklärt die Genese der jüngsten Serie des exzentrischen britischen Künstlerpaars. "Wir begannen mit Monstern, den inneren Ungeheuern, die du siehst, wenn du die Augen schließt." Und dann, fügt George hinzu, "kam der Jack, der Union Jack, die Kreuze und die Kreuzigung." Knapp 120 ihrer "Jack Freak Pictures" zeigen ab heute Abend die Deichtorhallen. Bilder mit einer unverkennbaren Vorliebe für das blau-rot-weiße Kreuz-Motiv der britischen Nationalflagge, Bilder aber auch mit einem auffallend hohen Gespür für die untergründige Verästelung des Lebens mit lunaren Kräften, monströsen Wesen oder dämmrig leuchtenden Laternen.

Wer diesen bemerkenswerten Parcours der Bilder betritt, glaubt sich in ein modernes Pandämonium nationaler Eigenheiten verirrt. Nichts ist "very british" - etwas, das den Weltstars aus dem Londoner East End des Öfteren nachgesagt wird. Jedoch: Wer wie sie in Maßanzügen auftritt, Höflichkeit gepaart mit Understatement und Humor mit einem Hauch von Oscar Wilde zu seinen Markenzeichen erhebt - geht es denn britischer? Dies dürfte nicht das einzige Vorurteil sein, das man beim Betrachten ihrer Kunstwerke in sich selbst entdeckt.

Vor mehr als 40 Jahren begann die unaufhaltsame Karriere des mittlerweile zu Weltruhm gekommenen Duos. Als lebende Skulpturen zeigten sie sich damals ihrem Publikum, intonierten auf den Tischen dieser Welt einen melancholischen Abgesang auf Künstlerträume, forderten "Art for all" und hatten dabei einzig sich selbst als Material. Sollte es je eine leibhaftige Personifikation der Rede von der "Entzauberung der Welt" gegeben haben, dann waren es diese beiden Studenten der Bildhauerei am Anfang ihrer Kunst. Die Kunst war an ihrem Ende angelangt, alles Schöpferische versiecht und das Leben in ewiger Wiederholung und Monotonie gefangen. Die Künstler drehten sich wortwörtlich im Kreise, wo immer sie sich in diesen Tagen als lebende Skulpturen präsentierten. Aber es zählt auch zu den Leistungen ihrer Kunst, dieser Entzauberungs-Falle entkommen zu sein. "Thou shalt reinvent life" - "du sollst das Leben wiedererfinden" - heißt es im vierten ihrer zehn Gebote, einer Art Künstler-Manifest in Anlehnung an das biblische Vorbild.

Einfach machen sie es ihrem Publikum dabei nicht. Wenn die Künstler Schritt für Schritt das verloren gegangene Terrain einer entzauberten Welt zurückholen, darf man keine populistische Kunst mit Folklore-Touch erwarten. Ihre Kunst ist komplexes Neuland, in dem nichts so ist, wie es einmal war, aber doch ist alles aus den Bildern des Alten geschöpft.

Wie jetzt mit diesen nationalen Bildern, die nicht nur den Union Jack, sondern auch andere Nationen und Ethnien, das ferne Palau, die Kurden oder die Türkei mit einschließen. "Flaggen", gibt George zu bedenken, "gehören heute überwiegend zwei Gruppen. Den Rechten, die sie bejahen, und einer eher linken Gruppe, die sie negativ besetzt. Beiden wollen wir die Flaggen stehlen und sie mit unseren eigenen Bildern beschreiben." In ihrer Ausstellung hält man tatsächlich vergeblich nach rechtem Nationalstolz oder Nationalismus-Kritik Ausschau. Wie in einem Kaleidoskop der ungeahnten Möglichkeiten entfalten sich hier Bild für Bild monströse wie geometrische, dunkle wie feingliedrige Facetten eines lebendigen und dämonischen Nationalkörpers. Mehr als 130 Jahre haben die beiden mittlerweile gemeinsam auf dem Buckel. In ihrer Offenheit und Schlagfertigkeit steckt allerdings noch ein gutes Stück jugendlicher Charme, mitunter auch verblüffende Kühnheit, die man ansonsten bestenfalls Minderjährigen zugesteht. "Sie sind so unglaublich kreativ", könnte man schreiben, wüsste man es nicht besser: "Heute spricht jeder über Kreativität, jede noch so normale Tätigkeit wird kreativ genannt. Wir glauben nicht daran. Wir bevorzugen das Wort fuckability", amüsiert sich Gilbert, der kleinere der beiden und in Italien aufgewachsene Künstler des Duos. Stimmt irgendwie auf seine direkte und offene Art. Was wäre das Wunderwerk der Evolution ohne fuckability?

Man kann sich daran gewöhnen, die Sicht auf den Lauf der Dinge auch einmal aus dieser Perspektive einzunehmen. Überhaupt: Auch, wer glaubt, Befürworter des Guten, Gemäßigten und Korrekten anzutreffen, wird bald eines Besseren belehrt. Gilbert & George sitzen in keinem Boot, das Richtung schöne neue Welt ablegt, wo alles geregelt, organisiert und für jeden Einzelnen die Betten gemacht sind, die Zukunft rosig und die Städte grün sind.

Was sie mit ihrer Kunst herausfordern, ist das aktive Leben, ihre Selbst-Erfindung und ihren ganzkörperlichen Einsatz. Unübersehbar erkennt man das in ihren Bildern, in denen Medaillen mit Sport-Motiven oder metallene Auszeichnungen auf individuelle Eigenleistungen hinweisen. Ihre Bilderwelt verstehen die Künstler als Plädoyer für die Freiheit des Individuums. Dem Freiheits-Zuschnitt per Gesetz stehen sie allerdings mehr als skeptisch gegenüber. "Das ganze westliche Leben", sagt George "ist eine erzwungene westliche Freiheit. Du wirst dazu gedrängt, eine freie westliche Person zu sein. Das ist keine Freiheit." Streitbar, das wollen sie sein, aber auch sehr unterhaltsam mit überraschenden Pointen.