... und ich sage dir, wer du bist. Eine kleine Typologie der freudigen Erregung aus Anlass von Olaf Scholz' (SPD) Wahltriumph in Hamburg.

Hamburg. Caren Miosga schien ein wenig ratlos. Ganz offenbar hatte Olaf Scholz das maximal Jubelmögliche bereits bei der Wahlparty der SPD in der Altonaer Fabrik gezeigt, da schien für die Tagesthemen nichts mehr übrig. "Heute ist im Prinzip Weihnachten und Geburtstag zusammen, und Sie wirken so euphorisch wie ein englischer Butler zur Teatime", sagte Miosga und konnte selbst nicht ernst bleiben. Aber Scholz konnte. Und wie.

Jubel sei "laute schallende Freude", schrieben Jacob und Wilhelm Grimm in ihrem "Deutschen Wörterbuch". Entweder war den Brüdern der körperliche Ausdruck der laut schallenden Freude nicht so wichtig, oder er ist kulturgeschichtlich jünger: das Hochreißen der Arme, die gereckte Faust, das Schütteln einer Trophäe, der Luftsprung. Für uns gehören solche Gesten heute selbstverständlich dazu, wenn einer jubelt.

Der Anti-Jubler Olaf Scholz, nach der Hamburg-Wahl wahrlich mit Anlass zu Jubel ausgestattet, ließ am Sonntag indes alle äußeren Anzeichen desselben vermissen. Kein Freudenschrei, kein Beben in der Stimme, kein noch so kleines Freudentänzchen. Nicht mal ein Hüpfer. Und wenn er die Arme hob, dann sah das nicht nach Siegerpose aus. Eher nach Beschwichtigung des Jubels, den der Sieg der SPD bei ihren in der Fabrik versammelten Anhängern auslöste.

Wie kann es sein, dass eine derart überwältigende Zustimmung des Wahlvolks vom künftigen Regenten fast reglos aufgenommen wird? Hat er sich vielleicht gar nicht gefreut? Ist das staatsmännisch - oder offenbart es einen beunruhigenden Mangel an Spontaneität und Emotion? Jubel ist die ganzkörperliche Reaktion auf den glücklichen Ausgang einer Sache, die nicht ausgemacht und sicher ist. Er ist das allen sichtbare Zeichen plötzlich gelöster Anspannung.

Das aber könnte die Erklärung liefern für die reduzierte Körpersprache des künftigen Ersten Bürgermeisters, der damit seinem früheren Spitznamen Scholzomat wieder alle Ehre machte. Womöglich war bei Scholz gar keine Anspannung. Viele haben ihm ja vorgehalten, dass er sich vor der Wahl schon wie der Sieger benahm. Weshalb sollte er dann nach Vollzug des Erwarteten eine Show abziehen und Jubel simulieren? Die noch einfachere Erklärung liefern Leute, die ihn ein bisschen kennen. Der ist so, sagen sie.

Der Explosive Bei der Oscar-Verleihung ist die Ausgangslage anders als bei dieser Hamburg-Wahl. Es gibt in jeder Kategorie viel mehr Kandidaten aufs Spitzenamt, nur einen Gewinner, und wer es sein wird, steht auf einer Karte in einem verschlossenen Umschlag. Spannung pur, Auflösung derselben in Echtzeit - in Jubel, Enttäuschung oder Contenance. Als Roberto Benigni 1999 den Oscar für "Das Leben ist schön" als bester ausländischer Film gewann, sprang er von seinem Sitz hoch, überkletterte, unter Missachtung seines Smokings, mehrere Reihen, die ihn von der Bühne trennten, und lieferte am Mikrofon die Stammelrede eines glücksübersäten Kindskopfs ab. Bei aller Liebe zur unbändigen Komik des römischen Taxifahrers in Jim Jarmushs "Night On Earth": Sein hemmungslos infantiler Jubel ließ viele betreten gucken. Zumindest teilweise schien Benigni hier auch das Handwerk des Schauspielers behilflich.

Die Ungläubige Zum Jubel gehört das Moment der Überraschung, schöner noch: die Gleichzeitigkeit von Gewissheit und Zweifel. Wirklich ich? Der Saal rast und tobt, aber im Gewinner bleibt noch ein Rest Ungläubigkeit. So sah unsere Lena aus, als sie im vergangenen Jahr den Eurovision Song Contest für sich entschied. Das Es-nicht-fassen-Können zaubert Röte ins Gesicht, Tränen, Fassungslosigkeit - und eben unbeschreibliche Freude. Der Körper scheint plötzlich doppelt so groß. Die Aura der Erfolgreichen braucht viel Platz.

Der Entrückte In manchem Jubel gibt es neben dem Impulshaften des Körpers auch ein Moment der Stille. Dann bleiben die Augen zu. Am nach innen gerichteten, entrückten Blick hat die Außenwelt keinen Anteil. Wem gelingt, was man ihm nicht zugetraut hätte - etwa Lukas Podolski, der bei der Fußball-EM 2008 das 2:0 gegen Polen schoss, eine Mannschaft, für die er sich genauso gut hätte entscheiden können wie für die deutsche Nationalelf. Diesen Moment genoss Podolski im Stillen. Eher selten ist das bei den Kickern. Verloren gegebene Helden wie Miroslav Klose, denen nach vielen torlosen Spielen wieder ein Treffer gelingt und die so mit einem Schlag auf die Straße der Sieger zurückkehren, heben dann ab, schlagen Salti - auch Piotr Trochowski vom Hamburger SV kann das ganz vortrefflich.

Der Abheber Jubel und Jubelort sind voneinander nicht zu trennen. Keiner erwartete von Britta Ernst, dass sie ihren Gatten Olaf Scholz auf der Bühne der Fabrik wie einen siegreichen Formel-1-Fahrer mit Champagner übergießen würde. Durch Körpereinsatz verdienter Jubel bricht sich leichter im Körper Bahn als die Genugtuung einer mit kühlem Kopf gewonnenen Wahl. Jogi Löw, Mittler zwischen Kopf und Körper im deutschen Fußball, lehrt die Jubelvariante Luftsprung. Luftsprung heißt: der Schwerkraft getrotzt. Vielleicht hat Olaf Scholz am Ende des Wahltages zu Hause im Flur doch einen Luftsprung gewagt. Auch nicht wahrscheinlich, aber immerhin vorstellbar: Er hat ihn am Morgen einmal vor dem Spiegel probiert, für alle Fälle - und fand sich doof dabei.