Höher, schneller, weiter: Die menschliche Spezies strebt stets nach Superlativen. Der Reiz der Extreme ist auch im Kino ungebrochen.

Der Mensch, er strebt nach dem Extrem. Will immer höher hinaus, weiter weg, tiefer runter. In neue Sphären vordringen, Rekorde pulverisieren, sich den ultimativen Adrenalinkick holen. Auch wenn der Buddha einst nachdrücklich den Mittleren Weg empfahl, den Ausgleich also, die sanfte Zielführung: Beim Gros der Spezies Homo sapiens ist diese Botschaft selbst nach 2500 Jahren noch nicht angekommen. Spanne man eine Saite zu stark, reiße sie, spanne man sie zu lasch, gebe es keinen Ton, auf das richtige Maß komme es also an, so der Königssohn Siddharta. Doch das richtige Maß, es ist nicht immer leicht zu finden. Weder im Kino noch im richtigen Leben. Und so mancher will es wohl auch gar nicht. Wie anders wären die im Guinnessbuch der Rekorde aufgelisteten Extremleistungen zu erklären. Beispielsweise die des Amerikaners Tom Owen, der 2008 acht Fahrzeuge mit einem Gesamtgewicht von 32 658 Kilogramm über seinen vermutlich ausgesprochen muskulösen Bauch fahren ließ. Oder die des Kanadiers Aaron Gregg, der bei einer Jongliershow drei laufende Kettensägen 88-mal auffing - und sich dafür von keiner seiner Extremitäten trennen musste. Zweifellos Ausdruck einer Neigung zum radikalen Lebensentwurf, die sich - etwas dezenter ausgestaltet - auch bei fanatischen Sammlern von Fußballautogrammkarten, Kaugummiverpackungen oder Käseetiketten zeigt.

Und weil Extreme einen so großen Reiz ausüben, haben sie natürlich auch ihren unverrückbaren Platz im Kino gefunden. Wer will schon ein Paar sehen, das sich nüchtern die gegenseitige Anziehung mit einem schlappen "Ich find dich gut" bescheinigt? Übergroße Gefühle sollen es sein, blumige Liebesschwüre, gerne auch - siehe "Titanic" - auf dem Wasser und mit anschließendem Tod durch Ertrinken. Für den Mittleren Weg ist da kein Platz. Erst recht nicht bei den nervenzerfetzenden Survival-Biopics, die mit schöner Regelmäßigkeit über die Leinwände hereinbrechen, wenn Menschen den unbarmherzigen Naturgewalten ausgesetzt waren, in allerletzter Sekunde mit dem Leben davongekommen sind und ein Buch darüber geschrieben haben. So wie Aron Ralston, dem 2003 auf einer Solo-Canyoning-Tour in den Schluchten von Utah eine ultimative Grenzerfahrung zuteil wurde. Bei einem eigentlich harmlosen Manöver in einer Felsspalte löste sich ein großer Gesteinsbrocken, der den rechten Arm des Outdoor-Abenteurers einquetschte. Der Beginn einer 127-stündigen Leidenszeit, deren Verfilmung jetzt den Weg in die Kinos findet (siehe Seite 7).

Aber, und das ist jetzt natürlich die zentrale Frage, hat Ralston daraus etwas gelernt? Hat er sein Leben geändert? Vielleicht sogar grundlegend? Die Antwort: Jein. Zwar hinterlässt der Amerikaner seitdem vor jeder Tour, wohin er sich genau aufmacht, doch dem Adrenalinkick abgeschworen hat er nicht. Noch immer steigt er auf schneebedeckte Berge oder mountainbikt durch menschenleere Wüsten, statt sich beispielsweise zum Fliegenfischen in einen sanft dahin fließenden Fluss zu stellen oder die ultimative Herausforderung bei einer Partie Fernschach zu suchen.

Und so ist Aron Ralston am Ende des Tages eben auch einer von jenen, die geradezu zwanghaft den Mittleren Weg vermeiden und aller Vernunft zum Trotze die Extreme suchen. Die Schwierigkeiten haben, das rechte Maß zu finden und lieber aus zehn Meter Höhe in 30 Zentimeter flaches Wasser springen oder im Sekundentakt mit der Faust Kokosnüsse zertrümmern, als sich den wirklich wichtigen Fragen des Lebens zu widmen. Aus buddhistischer Sicht ziemlich dumm, doch wer Kinokarten verkaufen will, weiß natürlich: Anders wird das nichts.

127 Hours ab 17.2. im Abaton, Cinemaxx, Koralle, UCIs Mundsburg, Othmarschen