Wim Wenders setzt auf der Berlinale mit “Pina“ dem Tanztheater und der Choreografin Pina Bausch ein Denkmal in der dritten Dimension.

Berlin. Den meisten von uns geht es ähnlich wie Wim Wenders, der einmal sagte, Bewegung als solche habe ihn nie sonderlich berührt, er habe sie immer als gegeben vorausgesetzt: "Man bewegt sich eben. Alles bewegt sich." Dann traf er Pina Bausch und plötzlich war alles anders. So will es zumindest die Legende der Künstlerfreundschaft, aus der "Pina" entstanden ist, "Ein Film für Pina Bausch von Wim Wenders", wie es im Untertitel heißt, was einen gleich stutzig macht: Was für ein Geschenk ist das?

Es war Mitte der 80er-Jahre, als der Filmemacher Wenders zum ersten Mal ein Stück der Tänzerin und Choreografin Bausch sah: minimalistische Szenen, in denen Männer und Frauen versuchen, zueinanderzufinden, tranceartig und mit geschlossenen Augen irren sie durch einen Wald von Stühlen, sehnsuchtsvoll. Wenders war 40 zu der Zeit, es war kurz bevor er "Der Himmel über Berlin" drehte, Bausch war 45, und ihr Ensemble hatte sich als das aufregendste unter den europäischen Tanztheatern etabliert.

Die beiden freundeten sich an und beschlossen, gemeinsam ein Projekt zu beginnen, halb Tanz, halb Film. Fast 25 Jahre nach dem ersten Treffen, im Winter 2009, war es so weit: Die Proben begannen. Es sollte eine der ersten europäischen Produktionen in 3-D werden. Bis dann, plötzlich und brutal überraschend, Pina Bausch im Sommer 2010 starb.

Wenders trauerte und beschloss aus dieser Trauer, ihr ein Denkmal zu setzen, und näherte sich dem, was sie hinterlassen hatte, ihrem Ensemble, in dessen Stücken, Choreografien und Bewegungen noch Bauschs Eigenarten zu erkennen waren, allen voran ihr Bemühen, die Welt ohne Worte zu verstehen.

Eine Hommage für eine geliebte Freundin, die nicht mehr da ist, kann gar nicht anders, als den Zug einer schmerzhaften Verbeugung zu haben, eine sehnsuchtsvolle Geste des Vermissens und Wiederzurückhabenwollens. "Pina" läuft erst mal wie ein Biopic ab, das die Stationen im Leben einer besonderen Frau zeigt: ältere und jüngere Tänzer aus Europa, Amerika und Asien, die oft Jahrzehnte mit Bausch im Wuppertaler Ensemble gearbeitet haben, erzählen Geschichten von ihr: was sie ihnen vor Auftritten in der Garderobe zuraunte und wie sie ihnen mit ihrer klaren Stimme und ihrer mal kühl distanzierten, mal gütig zugewandten Ausstrahlung Scheu und Bedenken nahm.

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Zwischen die Kommentare, Erinnerungen und Reminiszenzen sind Aufnahmen von Bausch selbst geschnitten, auf die Tanzsequenzen folgen, auf der Bühne oder in der Stadt Wuppertal, jede Bewegung, jeder Baum, selbst die Schwebebahn werden zur Kulisse für die getanzte Philosophie von Pina Bausch. Es wäre einfach, "Pina" abzutun als Form einer in sanfte Bilder gegossenen Seichtphilosophie, die auf blumige Sätze beschränkt ist wie "Deine Zerbrechlichkeit ist auch deine Stärke" und "Du musst mit dem Herzen sehen, nicht mit den Augen". Es kommt also ein Wille zum Ausdruck, bei dem aber keine Bedeutung entsteht, sondern nur die Atmosphäre von betroffener Bemühtheit, durch die barfüßig getanzt wird. Tatsächlich wallen lange Haare und fließen Kleider, treffen entrückte Gesichtsausdrücke auf angespannt ausgebreitete Arme, untermalen melancholische Töne sparsame Farben. Trotzdem ist "Pina" keine Mischung aus Trauerhommage und Ausdruckstanzbetroffenheit. Am Ende des Films sitzt eine Tänzerin an einer Straßenkreuzung in Wuppertal, vor ihr steht eine billige Musikanlage, aus der eine Stimme von magischen Momenten singt. Ringsum ist Beton, monoton leuchtende Ampeln, Lastwagen rauschen vorüber. Die Frau blickt starr vor sich hin, bis ein Mann vorbeikommt, sie hochzieht und sie verschwinden, ohne dass zu sehen ist, warum und wohin.

In so einer Schwebe bleibt auch, woher die Gewissheit eigentlich kommt, die am Ende zu spüren ist: dass Wim Wenders mit "Pina" eine Stimmung einfängt, die vielleicht längst nicht mehr existiert und zu der die graubraunen Industrielandschaften westdeutscher Gegenden genauso gehören wie Pina Bauschs Art, über Kunst zu sprechen, nicht abstrakt, sondern unmittelbar, doch ohne große Worte.

In einer Festrede für Pina Bausch ein Jahr vor ihrem Tod sagte Wim Wenders, er habe, wenn er ihre Stücke betrachte, "das Einfachste und Selbstverständlichste als das Bewegendste überhaupt zu sehen gelernt: welcher Schatz unseren Körpern innewohnt, sich ohne Worte mitzuteilen, und wie viel Geschichten erzählt werden können, ohne dass ein Satz gesagt wird". Wim Wenders' Geschenk an Pina Bausch ist, ihre Kunst von der Bewegung zu zeigen, ohne ihr eine Bedeutung zu geben.

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