Aufstände suchen sich ihre Orte. Aber wann ist ein Platz revolutionstauglich? Ein Blick in die Geschichte kann helfen, dies zu verstehen.

Hamburg. Plätze sind Treffpunkte, Orte der Kommunikation und des Handels. Sie sind Nachrichtenbörse und Bühne, Umschlagplatz für Waren und Ideen, Laufstege der Eitelkeit. Straßen münden hier, wo sich oft Macht und Ideologie manifestieren. Plätze sind herausgehobene Orte, Kirchen stehen dort und Rathäuser, Konsumtempel und Museen, Hotels und Bahnhöfe, manchmal Parteizentralen und häufiger Denkmäler. Im Mittelalter wurden Galgen aufgerichtet und Scheiterhaufen entzündet. Revolutionen brauchen Plätze. Revolutionen suchen sich ihre Plätze, wie es in diesen Tagen mit dem Tahrir-Platz in Kairo geschehen ist. Aber nicht jeder Platz eignet sich zur Revolution.

Praktische Voraussetzungen müssen erfüllt sein: Revolutionen brauchen einen Stadtraum, der Zigtausende, vielleicht Hunderttausende fasst. Er muss zentral liegen, leicht zugänglich sein, aber auch Fluchtwege offen halten. Oft sind es die Symbole der verhassten Macht, die die Menschen anzieht. Der Platz wird zur Arena der Auseinandersetzung. Vor dem Schloss, dem Parlament, dem Regierungspalast, der Parteizentrale kommt es zur Entscheidung. Es gibt drinnen und draußen, die Fronten sind klar: Hinter den Mauern harren die Herrschenden aus, auf der Weite des Platzes davor die Beherrschten, die entschlossen sind, die Verhältnisse umzukehren. Lenins Definition einer revolutionären Situation ist ebenso einfach wie plausibel: Die einen wollen nicht mehr, die anderen können nicht mehr. Die Entscheidung wird meistens auf Plätzen gesucht.

In Berlin war es im März 1848 der Schlossplatz, zu dem die Menschen strömten, um gegen die repressive Herrschaft der Hohenzollern zu demonstrieren. Am 18. März forderten etwa 10 000 Menschen von König Friedrich Wilhelm IV. Pressefreiheit und demokratische Rechte, bis preußische Truppen die Demonstranten zusammenschossen. Am Petersburger Blutsonntag 1905 feuerten zaristische Soldaten auf dem Schlossplatz der damaligen russischen Residenz eine friedlich demonstrierende Menschenmenge zusammen: Mindestens 130 Menschen fanden damals den Tod.

Beim "Sturm auf das Winterpalais" spielte der Petrograder Schlossplatz im November 1917 dagegen nur eine Nebenrolle, denn in Wahrheit gab es keinen Sturm. Ein Trupp Rotgardisten und Matrosen marschierte weitgehend ungehindert durch das Haupttor und verhaftete die provisorische Regierung, die im zweiten Stock eines Nebengebäudes ausharrte. Bei vereinzelten Schießereien gab es sechs Tote, zwei Fensterscheiben sollen zu Bruch gegangen sein. Erst zehn Jahre später machte Sergej Eisenstein den Schlossplatz zum Revolutionsplatz, als er für seinen Film "Oktober" von dort aus die Massen das Winterpalais stürmen ließ. Vom Film, nicht von der Wirklichkeit wird das Bild der Oktoberrevolution bis heute dominiert

Die deutsche Novemberrevolution von 1918 suchte sich gleich zwei entscheidende Schauplätze: Vom Balkon des Reichstags rief der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann am 9. November auf dem Königsplatz, der später in Platz der Republik umbenannt wurde, die Republik aus. Zwei Stunden später proklamierte der Kommunist Karl Liebknecht auf einem Lastwagen im Lustgarten die Sozialistische Republik.

Am Abend des 23. Oktober 1956 versammelten sich in Budapest etwa 200 000 Menschen auf dem Platz vor dem ungarischen Parlament, um für Meinungsfreiheit und Demokratie zu demonstrieren. Schon am Nachmittag hatten Studenten das Stalin-Denkmal am Budapester Heldenplatz gestürzt und es mit einem Traktor zum Parlamentsplatz gezogen. Aber der Triumph währte nur kurz: Wenig später wurde der Volksaufstand von sowjetischen Truppen blutig niedergeschlagen.

Im August 1980 strömten Tausende auf den Platz vor der Danziger Lenin-Werft, deren Arbeiter in den Streik getreten waren, um die Gründung der unabhängigen Gewerkschaft Solidarnosc durchzusetzen. Am 16. Dezember mussten die Machthaber mit ansehen, wie auf dem Revolutionsplatz ein aus drei hoch aufragenden Kreuzen bestehendes Denkmal enthüllt wurde, das an die Opfer der gewaltsam niedergeschlagenen Arbeiterproteste von 1970 erinnert.

Doch nicht immer versammeln sich die revolutionären Massen auf den Plätzen der Macht. So ging der Sturm auf die Bastille 1789 von keinem Platz aus, sondern von engen Wohnquartieren. Die heutigen Pariser Plätze entstanden erst durch die unter Napoleon III. von den Präfekten und Planer Georges-Eugene Haussmann realisierten Stadterneuerung.

Auch 1990 versammelten sich Hunderttausende Esten nicht auf einem der innerstädtischen Plätze im Zentrum von Tallin, sondern auf der Sängerwiese, wo sich schon seit 1869 Chöre treffen. Diesmal waren sie gekommen, um mit ihrer Singenden Revolution die Unabhängigkeit von der Sowjetunion zu erkämpfen. Und auch die Leipziger, die in Herbst 1989 das SED-Regime in die Knie zwangen, trafen sich nicht auf einem Platz, sondern in sechs Kirchen und den umliegenden Straßen und Plätzen. Das lag nicht nur dran, dass der Protest von Kirchen ausging, sondern hatte auch praktische Gründe: Weder der Markt noch der Nikolaikirchhof oder der damalige Karl-Marx-Platz, der heute wieder Augustusplatz heißt, boten genug Raum für jene mindestens 160 000 Menschen, die sich am 9. Oktober 1989 mit dem Mut der Verzweiflung zur Revolution entschlossen hatten. Der andere Grund war die Bewegung, die sich die Revolution damals suchte: Die Mensch liefen Runde für Runde um den knapp sieben Kilometer langen Innenstadtring, machten sich beim Voranschreiten gegenseitig Mut und hatten dabei völlig zu Recht das Gefühl, die Geschichte in Bewegung gebracht zu haben.

1989 Platz des Himmlischen Friedens, Peking : Schon 1976, nach dem Tod von Premierminister Zhou Enlai, war der Tiananmen-Platz Schauplatz von Demonstrationen, die sofort unterdrückt wurden. Im Mai 1989 versammelten sich hier Zigtausende, um für Demokratie zu demonstrieren. Am 4. Juni ließ die KP die Demokratiebewegung blutig niederschlagen.

1989 Innenstadtring, Leipzig: Nach dem traditionellen Friedensgebet in sechs Leipziger Kirchen demonstrierten am 9. Oktober etwa 160 000 Menschen über den Leipziger Innenstadtring und leiteten damit das Ende des SED-Regimes und der DDR ein. Warum die Staatsmacht trotz massiver Militärpräsenz damals nicht zuschlug, ist bis heute nicht endgültig geklärt.

1989 Wenzelsplatz, Prag: Im November 1989 strömten Zigtausende auf den Wenzelsplatz im Herzen von Prag, um gegen das kommunistische System zu demonstrieren. "Havel na hrad! - Havel auf die Burg!", skandierte die Masse, und tatsächlich wurde der DissidentVaclav Havel wenig später zum Präsidenten einer demokratischen Tschechoslowakei.

1989 Piata Revolutiei, Bukarest: Nachdem in der nordrumänischen Stadt Timisoara Unruhen ausgebrochen waren, befahl Diktator Nicolae Ceausescu am 21. Dezember die Massen vor die Parteizentrale. Doch das Volk huldigte ihm nicht, sondern forderte seinen Sturz. Ceausescu entkam mit dem Hubschrauber, wurde später nach einem Schnellprozess erschossen.

1994 Maidan Kiew: Nach der manipulierten Präsidentenwahl demonstrierten Zigtausende auf dem Maidan, dem größten Platz der ukrainischen Hauptstadt, für das Oppositionsbündnis"Unsere Ukraine" und dessen Spitzenkandidaten Wiktor Juschtschenko (Foto). Sie erzwangen eine Wahlwiederholung, aus der die "Orangene Revolution" siegreich hervorging.

2001 Avenue Habib Bourguiba, Tunis: Die Prachtstraße, die durch die Neustadt zur Medina führt, wurde im Januar zum Schauplatz der Massenproteste, die nicht nur zum Sturz der Diktatur führte, sondern Auswirkungen auf den gesamten Nahen Osten hat. Vor dem Hintergrund des brennenden Platzes ist hier noch ein Propagandabild des Diktators Ben Ali zu sehen.

2011 Tahrir-Platz, Kairo: Nomen est omen - Tahrir-Platz heißt auf Arabisch Befreiungsplatz. Tatsächlich gelang es den ägyptischen Demonstranten auf diesem im 19. Jahrhundert am rechten Nilufer angelegten Platz, sich von dem verhassten Mubarak-Regime zu befreien. Bereits 1977 hatte es hier Proteste gegen den damaligen Präsidenten Sadat gegeben.