Ein Lehrstück über die Gier: Der spannende und großartig besetzte Independent-Film “Margin Call“ eröffnet die Bärenjagd der Berlinale.

Berlin. Die Finanzwelt geht gerade aus den Fugen, aber Sam Rogers trauert nicht um die Kollegen, die mittags gefeuert worden sind, sondern um seinen Hund. "Er stirbt! Er hat Leberkrebs." Irgendwann ist die Labradordame dann tatsächlich tot, und am Ende weiß man sogar, wo der Hund begraben liegt.

Was für eine starke Metapher! Die Gier der Banker hat ja wie ein Geschwür in der New Yorker Investmentbank gewuchert, in der Rogers seit 34 Jahren arbeitet. Hoch bezahlt, aber offenbar nicht gut genug, um aussteigen zu können. "Ich brauche das Geld", wird er irgendwann sagen, wenn ihm sein CEO die Daumenschrauben anlegt.

Kevin Spacey spielt diesen Mann, der nach der 24-stündigen Achterbahnfahrt zur Rettung seines Unternehmens gebrochen zurückbleibt - begreifend, dass seine moralischen Grundsätze der Realität nicht standgehalten haben. Dass er auch nur einer von denen ist, die bereit sind, ihre Mitmenschen vorsätzlich zu ruinieren. Er habe die Rolle geliebt, weil sie ihm erlaubt habe, verhaltener als sonst zu spielen, hat Kevin Spacey gestern in Berlin gesagt. Und dabei einen alten Kollegen ins Spiel gebracht, den er offenbar bewundert: Jack Lemmon.

Wer geglaubt hatte, dass die internationale Finanzkrise ein zu trockener Stoff fürs Kino wäre, wird durch J.C. Chandors Wall-Street-Drama "Margin Call" schnell eines Besseren belehrt. Der Plot ist eigentlich simpel: Eine große Investmentbank hat sich verspekuliert, die Aktiva in ihrem Hypothekengeschäft besitzen nicht den Wert, der in den Büchern ausgewiesen ist. In der Nacht vor dem scheinbar unvermeidbaren Zusammenbruch werden die leitenden Angestellten zusammengetrommelt, um den Crash zu verhindern ...

Einerseits ist dieser Independent-Film die Illustration dessen, was uns 2008 erschreckt hat, andererseits muss man gar nicht verstehen, was eine Wertsicherungsgrenze ist oder wie sie definiert wird, um die Geschichte zu begreifen. Im Kern geht es um die Frage, warum Leute so gierig werden, dass sie sich von den gesellschaftlichen Werten völlig abkoppeln. Will Emerson (Paul Bettany) gibt die Antwort: Als einer der jungen Kollegen in dieser langen Nacht von ihm wissen will, was er mit seinem 2,5-Millionen-Dollar-Jahreseinkommen so gemacht habe, antwortet er: "Ich hab's ausgegeben." Wer viel hat, heißt das, will und braucht immer mehr. Dieser Will Emerson ist allerdings auch der, der irgendwann überlegt, ob es nicht Zeit wäre, vom Dach zu springen.

"Wir wollten zeigen, wie es diesen Menschen zu diesem Zeitpunkt ging", hat der Regisseur J.C. Chandor gestern gesagt. Tatsächlich haben Chandor und seine Schauspieler vor den Dreharbeiten mit einigen New Yorker Bankern und Börsianern gesprochen. Aus Sicht von Kevin Spacey waren das "ganz normale Menschen, die versuchen, viel Geld zu verdienen, die aber auch Weisungen entgegennehmen müssen". Ganz so milde fiel das Urteil von Jeremy Irons nicht aus. "Ich glaube", warf der britische Oscar-Preisträger ein, "das globale Bankensystem ist weitgehend amoralisch. Die Gier der Banker ist amoralisch, aber der entfesselte Konsum, den wir in den letzten zwanzig, dreißig Jahren erlebt haben, war es auch." Irons gibt den CEO der Investmentbank. Diesen John Tuld, der für die verängstigten Angestellten vor allem zynische Sprüche übrig hat. Nach dem Motto: "Es ist nur Geld, und Geld ist eine Erfindung." Was leicht gesagt ist, wenn man, wie Tuld, pro Jahr 86 Millionen Dollar plus Boni einsackt.

"Margin Call" ist eines der kleinen Kinowunder, die es immer wieder gibt: Große Schauspieler vertrauen ihrem Instinkt und drehen einen spannenden Film mit einem jungen Regisseur, der außer seiner Begeisterung noch nichts vorzuweisen hat. Demi Moore hat übrigens auch mitgemacht. Sie ist am Ende das Bauernopfer, das der CEO den Börsenhändlern serviert. Nach Berlin kam die Amerikanerin jedoch wider Erwarten nicht. Die Show auf dem roten Teppich war trotzdem spektakulär: Der Regisseur sprach überwältigt von einem Traum, der wahr geworden sei: "Was ich geschrieben habe, sehe ich jetzt auf der Leinwand. Und das im Wettbewerb der Berlinale. Unglaublich!"