Warum der Bart im Rock 'n' Roll wieder sprießen darf

Es muss 1972 gewesen sein. Meine Plattensammlung wuchs und wuchs und mein Haupthaar und mein Bart ebenfalls. Matte nannte man das damals. King Crimson, Frank Zappa und die Edgar Broughton Band waren meine Lieblingsbands, jeder Musiker in diesen Combos war mit prächtigem Haarwuchs gesegnet. Wer cool war, trug Matte. Und die gehässigen Rufe der Façonschnitt-Träger ("Jesus! Jesus!") prallten an mir ab. Ich war schließlich nicht der Boss von zwölf Jüngern; ich hatte ein blondes Mädchen neben mir im Arm, das schönste zwischen Bremerhaven und Cuxhaven. Nur das zählte.

Die Beatbands in England und die Hippies in den USA setzten die Trends, wer hip sein wollte, machte einen großen Bogen um den Friseurladen und hielt die Mutter mit dem Langhaarschneider auf Distanz. Der sprießende Kopfputz war nicht nur Teenagermode, nein, er war Ausdruck der Ablehnung des Establishments, der angepassten Vätergeneration, die Musik von Wencke Myhre und Peter Alexander hörte und glaubte, uns mit Sprüchen wie "Lange Haare, kurzer Verstand" beleidigen zu können. Wir wussten es sowieso besser, setzten unsere Kopfhörer auf und spielten zu "Whippin' Post" der Allman Brothers Band selbstvergessen mit geschlossenen Augen Luftgitarre. 20 Minuten lang.

Doch Ende der 70er-, Anfang der 80er-Jahre war es vorbei mit der ungebändigten Pracht im Gesicht. Plötzlich waren androgyne Typen die Stars, die Gitarre hatte ausgedient, gestylte Jüngelchen drehten an Synthesizerknöpfen, entweder waren sie glatt rasiert oder hatten gar keinen Bartwuchs, was auf mangelnde Testosteron-Produktion hinwies. Auf den Titeln der Musikmagazine tauchten Bands wie Wham, Haircut 100 oder Heaven 17 auf. Wir Ex-Hippies mussten uns jetzt zwischen Gillette-Rasierer und Außenseitertum entscheiden. Die Klubs mit all den geschniegelten Poppern und dem Synthi-Pop wurden zur No-go-Area, für jeden Rockfan waren die 80er-Jahre das schlimmste Jahrzehnt, seit Elvis the Pelvis seine Hüften kreisen ließ. Das einzig Positive war, dass unsere Freundinnen wieder ihre Achselhöhlen rasierten und ihre Unterschenkel von so manchem Wildwuchs befreiten.

Kurz vor der Jahrtausendwende drängten die Gitarrenbands zurück auf die Szene, die synthetische Musik wurde wieder etwas zurückgedrängt, Neo-Hippies wie Devandra Banhart oder Bonnie "Prince" Billy tauchten auf. Und mit ihnen ist plötzlich auch der Bart wieder da. Junge Folkrock-Bands wie die kalifornischen Fleet Foxes lassen es wild sprießen wie in den 60ern mit der "Back to nature"-Philosophie. Allerdings erfordert das heute fast mehr Mut als damals. Denn gerade in den USA gelten Träger von langen Bärten politisch als höchst suspekt. Am Tag nach den Anschlägen auf das World Trade Center wurde zum Beispiel ein Bärtiger aus einem Vorortzug nach New Jersey geholt. Der kunstvoll gebundene Turban wies ihn eindeutig als ein Mitglied der indischen Sikhs aus, für US-Polizisten war in der damaligen Hysterie jeder Bartträger ein Islamist und potenzieller Feind Amerikas.

Doch die neue Folk-Rock-Szene scheint täglich ihre Anhängerschaft zu mehren - als Ausdruck einer Gegenbewegung gegen das gelackte Wall-Street-Business und als sanfte Verweigerung. Die Songs eines Sam Beam aka Iron & Wine oder eines Nathaniel Rateliff entsprechen ihrer Gesichtshaut: Sie sind alles andere als glatt.

Deshalb haben sie selbstverständlich Einzug in meine Plattensammlung gefunden. Diese wächst stetig, was ich von meinen Haaren nicht sagen kann. Das Haar wird dünner, der Bart grau. Nur die Einstellung zur Musik hat sich nicht geändert. Und Bartträger gehören immer noch zu meinen Lieblingen.

Iron & Wine, Nathaniel Rateliff