Bei den Lessingtagen zeigte das Maly-Drama-Theater aus St. Petersburg “Leben und Schicksal“ nach dem Roman von Wassili Grossman.

Hamburg. Dem Kampf ums "Gute" sind Millionen von Menschen zum Opfer gefallen. Im Namen einer Religion oder politischen Führungspartei. Die Gleichsetzung von nationalsozialistischem und stalinistischem Terror im Roman "Leben und Schicksal" hat Wassili Grossman das Verbot seines Buches eingebracht, das erst 1989 in der Perestroika veröffentlicht werden konnte. "Ich glaube nicht an das Gute, sondern an die Güte zwischen den Menschen", sagt darin ein im Konzentrationslager inhaftierter Bolschewik. Er muss im Gesicht des deutschen Feinds die Fratze des eigenen bösen Fanatismus erkennen. Lev Dodin, russische Regielegende der Glasnost-Epoche, hat das Epos vor dem Hintergrund der Schlacht um Stalingrad auf die Bühne gebracht. Sein eindringlich inszenierter, bewegend gespielter Appell an die Menschlichkeit fand bei den Lessingtagen viel Beifall.

+++ EIN DOSSIER ZU DEN LESSINGTAGEN AM THALIA-THEATER +++

Zwischen zwei Schränken spannt sich ein Netz quer über die Thalia-Bühne. Der Maschendraht teilt den Raum in zwei gegnerische Spielfelder. Das wiederkehrende Schlüsselbild eines Ballspiels eröffnet den Abend: der Mensch ausgeliefert dem Schicksal. Oder in den Händen anderer Menschen doch nichts als deren Spielball? Dodin gelingt es, Grossmans ausladendes Panorama aus dem Zweiten Weltkrieg zu bändigen.

Ein Abschiedsbrief der ins Getto deportierten jüdischen Ärztin Anna Strum (Tatiana Shestakova) an ihren Sohn Viktor gibt den szenischen Rahmen. Der Atomphysiker wird wegen seines Judentums und der Weigerung, "zu bereuen", von der Forschungsarbeit ausgeschlossen. Doch als ihn Stalin nach dem Sieg über die Deutschen persönlich anruft und ihn rehabilitiert, lässt er sich für dessen menschenverachtendes Regime einspannen. Sergey Kurshev spielt den Gewissenskonflikt des Wissenschaftlers, der sich in seiner Arbeit "frei" fühlt, mit dramatischem Körperausdruck zwischen Euphorie und quälenden Zweifeln.

In die Familienszenen mit seiner Frau Ludja (eine tragisch umflorte Schönheit: Elena Solomonova) und Tochter Nadja (Daria Rumyantseva) dringen von außen der Kriegs- und Lager-Alltag ein. Das Ballnetz wird zum KZ-Zaun, hinter dem die Männer in gestreiften Uniformen antreten. Aus den Tätern werden Opfer und umgekehrt. Der linientreue Kommunist und der Nazi-Scherge gestehen sich zynisch ein, voneinander lernen zu können. Und Kurshev zeigt Viktors Subordination nicht ohne satirische Tragikomik.

Altmeister Dodin, der sich am Ende verbeugte, zeigt im symbolischen Naturalismus seiner fast vierstündigen, nicht nur durch die Übertitelung gut verständlichen, immer wieder packenden Aufführung auch die Gleichzeitigkeit von Grausamkeit und kurzem Glück. Hungernde Häftlinge umlagern ein auf dem Eisenbett halb nackt sich umarmendes Liebespaar. Überdeutlich wird Dodins Botschaft: Dem Menschen das Recht auf sein Gewissen zu nehmen ist schrecklich.