Das französische Chanson ist so unverwüstlich wie das Baguette, der Bordeaux und der Camembert. Ein Exportschlager, der es bis nach Südostasien geschafft hat. Überall kennt man Charles Trenet und Edith Piaf, Juliette Gréco und Charles Aznavour. Nein, von der Riege des French Pop, angeführt von Patricia Kaas oder dem klebrigen Softrock eines Jean-Jacques Goldmann, soll hier nicht die Rede sein.

Das Chanson war sich immer selbst genug. Die Abgrenzung zum verpönten Angloamerikanischen Pflicht. Es ist wohl kein Zufall, dass diese Kunstform eigentlich auf die Liebes- und Trinklieder des 15. bis 17. Jahrhunderts zurückdatiert. Am Sinn und Zweck hat sich bis heute nicht viel geändert. Gut, während der Französischen Revolution gab sich auch das Chanson auf einmal kämpferisch. Mitte des 19. Jahrhunderts bevölkerten die ersten frivolen Diseusen die Kellerbars, später wurden sie abgelöst von den schwarz gewandeten Existenzialisten und der Boheme.

Eine kurvig jazzige Melodie, Geigenpathos und das unvermeidliche Akkordeon zählten zu den Ingredienzien. Für alle Frankophilen jenseits der Seine duftet diese Musik auf ewig unendlich süß nach dem Lavendel provenzalischer Dörfer und nach L'Amour toujours. Das Chanson ist das Musik gewordene Versprechen der elegantesten Verführung, seit es Schnulzen gibt.

Die Helden des Chansons sind bis heute vor allem Serge Gainsbourg und Edith Piaf. Natürlich ziehen sie längst eine Phalanx an Reinkarnationen hinter sich her. Allen voran der Wunderknabe Benjamin Biolay. Er sieht aus wie der eiskalte Engel Alain Delon, ist aber mindestens ebenso wild, selbstzerstörerisch und genial wie Gainsbourg. Obendrein war er publikumswirksam mit der Tochter einer anderen Ikone Frankreichs verheiratet, mit Chiara Mastroianni, Tochter von Catherine Deneuve und Marcello Mastroianni.

Wie bei allen großen Barden klingt auch Biolays Sprechgesang unendlich deprimiert. Für ihn ist das ganze elende Dasein wie in der Single "Novembre toute l'année" auf dem Debüt "Rose Kennedy" ein einziger Winter. Nichts mit St. Tropez und Savoir Vivre. Nichts mit Küssen hart am Wind. Seine Entertainerqualitäten sind bis heute mäßig. Das unterscheidet ihn natürlich von Gainsbourg, der gerne mit erotisch ("Lemon Incest") oder politisch ("Aux Armes") aufgeladenem Liedmaterial provozierte.

Für seine Songs verehrt die Grande Nation den widerspenstigen Buben Biolay wie einen Gott. Er hat das zum Mythos geronnene Genre zu neuem Glanz geführt. Und verhindert, dass es verdorrt, wie die Gitanes zwischen den Fingern der dünnstimmigen, nervös qualmenden Diseusen à la Jane Birkin oder Françoise Hardy.

Auch Biolays Texte verweilen da, wo man das Chanson vermutet, an menschenleeren Stränden und bei gebrochenen Versprechen. Hach. In seinem Fahrwasser gedeiht inzwischen eine höchst lebendige Szene von Neo-Chansonniers (Marianne Dissard, Rançoiz Breut, Dominique A., Jerome Minière), die das Chanson entstaubt haben. Und von denen einige verstohlen auf die Gitarrenriffs der Britischen Inseln oder der Wüste Arizonas schielen. In Deutschland sind sie bekannt geworden durch die beliebten Le-Pop-Sampler.

Mit der neuen Piaf ist es weniger einfach. Klar, da gibt es die exzentrische Camille, die Tierlaute nachahmen kann und ihre Stimme wie ein Perkussionsinstrument einsetzt. Und jetzt gibt es ZAZ, die, mit dem Stallgeruch der Kabarett-Bars und der Straßenmusik behaftet, zum Sprung in die Hitparaden dies- und jenseits der Seine ansetzt. Die Enkel stehen bereit. Für die Franzosen wird das Leben immer ein Chanson sein, wie es ein Filmklassiker von Alain Resnais so schön erzählt.