Alles nur geträumt: das Neujahrskonzert der Zukunft

Wir schreiben das Jahr 2019. Am Neujahrsmorgen laufen vereinzelt Leute vom U-Bahnhof Baumwall über einen überdachten Boulevard auf einem roten Teppich mit Hamburgwappen auf die vor wenigen Monaten provisorisch eröffnete Elbphilharmonie zu. Blumenmädchen säumen den Weg und werfen mit Schneeglöckchen. Ein mit dem Geld und Know-how der HamburgMusik GmbH zusammengesuchtes Orchester aus Stimmführern und Solisten der besten Symphonieorchester der Welt, sie sind aus New York, Wien, Berlin, Boston, Dresden, München, Paris, London und so weiter angereist, bereitet sich im Saal aufs Neujahrskonzert vor.

An jedem Pult steht zusätzlich ein Stuhl für Jungen und Mädchen aus Hamburger Problemschulen von Altona bis Wilhelmsburg, die dank der Initiative "Jedem Kind ein Instrument" gelernt haben, ein Horn, eine Klarinette oder Geige festzuhalten, ohne dass das Gerät sofort zu Bruch geht. Fünf Gefangenentransporter parken in der Tiefgarage. Jugendliche Gewalttäter beiderlei Geschlechts, die gerade wegen Rückfalls leichte Bewährungsstrafen absitzen, werden zum Bühneneingang geleitet. Sie bilden heute den Chor. Musikpädagogen haben wochenlang mit ihnen auf diesen Auftritt hingearbeitet. Die Aufgabe der Delinquenten: rappen, bis der Arzt kommt.

Die Tickets fürs Konzert lagen in Bäckereiketten aus. Jeder, der zu Silvester mehr als drei Berliner kaufte, bekam eine Doppelkarte gratis. Noch eine super Idee der Hamburg Marketing: Auswärtige Gäste, die wegen einer der 27 konkurrierenden Musicalaufführungen Silvester in Hamburg verbringen, bleiben gegen Zahlung einer weiteren Übernachtung auch an Neujahr hier und werden dafür mit Stretch-Limos von ihrem Hotel zur Elbphilharmonie gefahren, wo sie nach einem Cocktail ("Bloody Ole", Alsterwasser mit Cointreau auf Elbschlick) aufs Haus ihre Ehrenplätze einnehmen.

Auf dem Programm steht die Sinfonie Nr. 9 von Beethoven, die mit dem Schlusschor. Was denn sonst? Jeder Satz wird von einem anderen Dirigenten geleitet. Im Finale nehmen die Schüler die Plätze der Stimmführer ein, die HamburgMusik stellt 19 ihrer Mitarbeiter zum Dirigieren bereit, die anderen 58 passen nicht mehr aufs Podest. Der Chor der jugendlichen Delinquenten bellt im Schlusschor Zeilen wie "He Digger, küss ma die ganze Welt" in den Saal. Die Neujahrsansprache entfällt, die Erste Bürgermeisterin will wegen so was ihren Ski-Urlaub nicht unterbrechen.

Unter den Anwesenden wird dafür eine der Eigentumswohnungen aus der Mantelbebauung der Elbphilharmonie verlost. Die auswärtigen Gäste bekommen die Chance auf weitere Verlängerung ihres Hamburg-Aufenthalts: Hamburg Marketing und HamburgMusik weisen alle, die auf die Frage Hummel Hummel die richtige Antwort wissen, für eine Extrawoche (sieben Übernachtungen im DZ und Vollpension mit Fischbrötchen) ins Best Western Hotel "Grand ElbPhilly" nebenan ein.

Nach der Pause (Sekt, Fischbrötchen und Sackhüpfen bei offenen Fenstern in der Plaza, Ice-Bungee-Jumping vom 12. Stock auf die zugefrorene Elbe) kommt es zur Uraufführung der neuen Stadthymne, für die Hamburg Marketing und HamburgMusik einen Wettbewerb ausgeschrieben hatten. Chor und Ad-hoc-Orchester präsentieren das gut 25-minütige Werk (Musik: Jörn Arnecke, Text: Lotto King Karl), das ausschreibungsgemäß mit Zitaten von Telemann, Brahms, Hans Albers und Udo Lindenberg gespickt ist. Am Pult steht niemand. Der Privatsender Hamburg 1 überträgt das Ereignis, bis sich ein paar der jugendlichen Delinquenten der spärlichen Kameraausrüstung bemächtigen und sie an einer überlebensgroßen Bronzeplastik im Foyer zerschlagen. Sie zeigt das Antlitz der beiden Architekten Herzog und de Meuron.

Silvester- und Neujahrskonzerte in Hamburg: 31.12. / 1.1.