Wie die zahlreichen Enthüllungen von WikiLeaks in den vergangenen Wochen das Selbstverständnis des Journalismus verändert haben.

Hamburg. Die Rede war rhetorisch brillant, mehr aber auch nicht. Als der Schweizer Verleger Michael Ringier am 18. November auf den Zeitschriftentagen in Berlin über die neue Stärke von Print sprach, arbeitete er sich vor allem am Internet ab. Dort gebe es "den digitalen Mob". Mit Journalismus hätten die Hervorbringungen des Netzes nichts zu tun, mit preisgekröntem schon mal gar nicht. "Wir brauchen Edelmetall", sprach der Verleger, "den Schrott finden Sie im Internet."

Dafür, dass es ein genuines Erzeugnis dieser digitalen Schrotthalde ist, hat das Online-Portal WikiLeaks in der Offline-Welt ordentlich Staub aufgewirbelt. Nicht nur, dass sich Leitartikler jeglicher Couleur an den Enthüllungen von WikiLeaks abarbeiten. Die weltweit besten Blätter - von der "New York Times" bis zum "Spiegel", vom "Guardian" bis zu "Le Monde" - reißen sich um die geheimen Dokumente, die das Internetportal ausgegraben hat. Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dass Journalismus und Internet keine Gegensätze sind, sondern sich gegenseitig befruchten können, hat WikiLeaks ihn geliefert.

Natürlich war der Gegensatz zwischen Journalismus und Internet schon vor WikiLeaks künstlich konstruiert. Es gibt schon seit Langem hervorragende journalistische Angebote im Netz. Allerdings galt es bisher als nahezu ausgeschlossen, dass reine Online-Medien im großen Stil investigativ arbeiten können. Investigative Recherchen sind teuer. Und mit Journalismus lässt sich im Internet kaum Geld verdienen.

Das ist das Neue an den Veröffentlichungen von WikiLeaks: Eine Online-Plattform hat unter Beweis gestellt, dass sie mit ihren Enthüllungen die Welt bewegen kann. Die Veröffentlichungen von WikiLeaks sind streng genommen nicht das Ergebnis investigativer Recherchen. Vielmehr liegt ihnen die Erkenntnis zugrunde, dass digitalisierte Informationen - und um solche handelt es sich bei den vom Portal publizierten Geheimpapieren zum Irak- und Afghanistan-Krieg sowie bei den amerikanischen Botschaftsdepeschen - schwer zu schützen, aber leicht zu kopieren sind. Es dürfte kein Zufall sein, dass bei WikiLeaks vor allem Hacker aktiv sind. Ihnen ist dieses Prinzip schon länger geläufig.

Denkt man es zu Ende, könnten die Enthüllungen von WikiLeaks der Anfang vom Ende des Herrschaftswissens sein, so wie wir es bisher kennen. Die Musikindustrie bietet schon jetzt von sich aus ihre Produkte ohne Kopierschutz an. So weit wird es mit geheimen Regierungspapieren nicht kommen. Aber Forderungen nach mehr Transparenz in der Politik erhalten durch die Enthüllungen von WikiLeaks ebenso Auftrieb wie der klassische aufklärende Journalismus.

Wenn Internetaktivisten und Journalisten Hand in Hand arbeiten, können sie viel bewegen. Das haben die vergangenen Wochen gezeigt. Denn ersetzen kann WikiLeaks den Journalismus natürlich nicht. Erst durch die von Journalisten geleistete Analyse und Einordnung der von dem Portal besorgten Geheimpapiere entfalteten sie ihre ganze Sprengkraft.

Zeitungen wie die "taz" und die dänische "Politiken" kopieren und laden die von Abschaltung bedrohte Website von WikiLeaks auf eigene Server. Selbst wenn die Mächtigen in Politik und Wirtschaft es schaffen sollten, WikiLeaks zur Strecke zu bringen, wird es Portale, auf denen geheime Dokumente hinterlegt werden können, auch künftig geben. Der frühere Sprecher von WikiLeaks, Daniel Domscheit-Berg, hat mit OpenLeaks ein solches Portal gegründet. Die Essener WAZ-Gruppe bietet auf ihrer Site DerWesten.de Vergleichbares an. Das Verhältnis zwischen etablierten Medien und Netzgemeinde hat sich in den letzten Wochen grundlegend geändert. Die Erkenntnis greift Raum: Im Schrott des Internets stecken noch manche Goldnuggets.