Das Ensemble des Thalia gastiert mit Shakespeares “Hamlet“ in Peking - eine Kulturreportage über das Aufeinandertreffen zweier Theaterwelten.

Peking. Der Hirsch hängt noch beim Zoll fest. Bei der aktuellen "Hamlet"-Inszenierung des Thalia symbolisiert der Kadaver auf der Bühne das Faule, Vergängliche. Eigentlich. Beim Gastspiel des Hamburger Theaters in Peking wird das ausgestopfte Tier aber auch zum Sinnbild für all die bürokratischen, kulturellen und vor allem sprachlichen Hürden, die zu nehmen sind, bis der Rest dann Schweigen ist.

Mit einem fast 40-köpfigen Team aus Schauspielern, Technikern, Regie, Requisite, Maske und Kostüm ist die Produktion von Regisseur Luc Perceval ins Reich der Mitte gereist. In einem Land, in dem Englisch dem durchschnittlichen Globetrotter in etwa so viel hilft wie fließendes Chinesisch auf der Mönckebergstraße, ist ein derartiges Unterfangen vor allem: ein Kunststück an Kommunikation.

Josef Ostendorf, einer der Darsteller, die Perceval für sein Konzept des doppelten Hamlets besetzt hat, hat daher weise geplant und vor Ort eine Deutschstudentin als Dolmetscherin und Tourguide angeheuert. "Mit der bin ich durch ganz Peking gefahren und habe mir alles angesehen. Ich bin fix und fertig, so schön finde ich's", erzählt er mit seiner warmen Knödelstimme. Sie sind schon ein kurioses Paar, wie sie da zusammen über den Platz des Himmlischen Friedens laufen, der riesig-runde Akteur und die zierliche Asiatin, die sich Sabina nennt, weil ihr chinesischer Name zu kompliziert ist. Immer wieder bilden sich kleine Trauben um Ostendorf. "Mein Format erinnert ja auch ein wenig an den großen Vorsitzenden", sagt der 54-Jährige, lacht ganzkörperlich und deutet auf das überdimensionale Mao-Porträt, das an der Stirnseite der 44 Hektar großen Repräsentationsfläche prangt. Intensiv hat Ostendorf vorab Bücher über Peking gelesen und Filme angeschaut. Im Gegensatz zu Jörg Pohl, dem zweiten Dänenprinzendarsteller. Ganz so, als lebe der sich in zwei Figuren aufspaltende Hamlet in der Realität fort.

"Ich hab mich überhaupt nicht vorbereitet", sagt Pohl. Die blonden Haare stehen wirr ab, das schmale Gesicht schaut müde. "Ich habe vor zwei Monaten einen Sohn bekommen, wir hatten Endprobenwoche mit 'Was ihr wollt' und haben noch zweimal gespielt, bevor ich dann los bin", erklärt der junge Hamlet. "Ich bin zum ersten Mal länger als zwei Stunden geflogen, der Jetlag hat mich eiskalt erwischt." Des einen Studienfahrt ist des anderen Reizüberflutung.

Kein Wunder in einer Stadt, in der meditative Ruhe neben wuchernder Gigantomanie existiert. Eine Stadt, zu deren 17 Millionen Menschen täglich 1500 hinzukommen. Wo anstelle der Macht Maos mehr und mehr die Propaganda des Konsums tritt. Selbst in U-Bahnschächten laufen Werbefilme, um in den vorbeifahrenden Zügen potenzielle Kunden zu erreichen, wenn diese gerade nicht elektrisiert auf ihre Handys gucken. Die traditionelle Welt der Zeichen, die auf jahrtausendealter Geschichte basiert, konkurriert in Peking verstärkt mit neuen Codes.

Ein derart medial aufgeladenes Publikum für Kultur zu begeistern wird selbst für jene zunehmend schwer, die Chinesisch sprechen. Regisseur Lin Zhaohua jedenfalls ist skeptisch, ob sich die Jugend der Metropole nachhaltig für das Theater interessieren lässt. Lin ist ein drahtiger alter Mann, der beim Reden immer ein wenig so klingt, als würde er schimpfen. Ein Bauchmensch, der Theater machen, nicht theoretisieren möchte. Einer, der eine Anglerweste überm Pulli trägt, als müsse er seine Requisiten stets bei sich führen.

Um dem Theater in seiner Heimat eine Plattform zu bieten, hat er mit seiner Kompanie diesen Dezember erstmals ein Festival auf die Beine gestellt. Im Beijing People's Art Theatre an der Wangfujing Road, im unmittelbaren Spannungsfeld von westlichem Luxus und fernöstlicher Historie, mit Shoppingmalls in der einen und Verbotener Stadt in der anderen Richtung. Auf dem Programm steht nicht nur der Thalia-"Hamlet" als internationales Gastspiel, sondern auch Lins 1990 uraufgeführte Version von Shakespeares Klassiker mit dem chinesischen Superstar Pu Cunxin in der Hauptrolle.

In der Volksrepublik gilt Lins Bühnenkunst als experimentell und kontrovers, doch verglichen mit dem deutschen Theater wirkt seine Regiehandschrift sehr klassisch, fast antiquiert. Deshalb hat Lin die Hamburger eingeladen. Um die Sehgewohnheiten seiner Landsleute gehörig zu brechen. "Ein chinesischer Regisseur würde für so eine großartige Inszenierung nur kritisiert werden", sagt Lin. Diesmal wohl wirklich schimpfend. Ausländern werde eher gestattet, Unerhörtes zu zeigen.

Allerdings im chinesischen Rahmen. Auf einem Empfang der deutschen Botschaft tritt ein Mitarbeiter des Goethe-Instituts an Pohl heran und fragt vorsichtig, ob er sich das mit der Nacktszene nicht noch einmal überlegen möchte. Mittelschwere Tumulte werden befürchtet. Offenbar zu Recht. "Nackt auf der Bühne? Wirklich? Warum? Wie kann der so was machen?", fragt die Studentin Peng Li entgeistert. Hätte man ihr erzählt, der Bühnen-Hirsch würde live geschlachtet, das Entsetzen wäre kaum größer gewesen. Die junge Frau gehört zu den Dolmetschern, die dem Thalia-Team bei Aufbau und Organisation helfen. Eines von vielen Gliedern in einer oft kafkaesk anmutenden Kommunikationskette. "Es müssen offenbar erst viele und dann die zwei Richtigen miteinander reden", versucht Bühnenbildnerin Annette Kurz den Prozess zu verstehen, der in China auf Worte Taten folgen lässt.

Im People's Art Theatre probt Regieassistent Jonas Zipf mit den Kindern, die von der deutschen Schule für die zwei Gastspiel-Abende gecastet wurden. Ein Brückenschlag. Denn der Thalia-"Hamlet" in Peking, das ist nicht nur ein exotisches Intermezzo für die Asiaten, sondern auch ein wenig heimatliche Kulturscholle für die deutsche Enklave. "Sebastian findet es unglaublich spannend, mal in einem deutschen Stück mitzuspielen", sagt Sibylle Marschner über ihren zehnjährigen Sohn, der gerade mit seinen anderen kleinen Kollegen lernt, in einer Reihe durch die Kulisse aus dunklen Tüchern zu laufen. Marschners Mann arbeitet als Dolmetscher an der deutschen Botschaft. Irgendwie scheint jeder, der beide Sprachen spricht, immer auch Übersetzer zu sein. Zum Glück. Denn die Kisten mit Kostümen und Kulissen, sie sind anderthalb Tage vor der Peking-Premiere dann auch endlich aus dem Zoll herauskommuniziert worden.

"Da ist er ja, der Hirsch!", ruft Barbara Nüsse, die den Polonius spielt. Dafür sitzen die Schauspieler bei der Probe seit einer halben Stunde hinter dem schweren Vorhang, der zwar heruntergelassen wurde, jetzt aber nicht wieder hochgefahren werden darf. Eine Vorschrift. Regisseur Perceval tapert im Zuschauerraum auf und ab. Den Hut ins Gesicht gezogen, den Kragen der Jeansjacke hochgestellt und langsam nicht mehr hundertprozentig gut gelaunt.

"Das war so nicht abzusehen", ruft Oliver Canis, ein großer Kerl mit baumruhiger Ausstrahlung. Der technische Direktor ist so etwas wie der Reiseexperte des Thalia. Von den chinesischen Kollegen ist Canis "sehr angenehm überrascht". Trotzdem seien Dolmetscher quasi überlebenswichtig. Auch um die Mentalitäten zu übersetzen. "Wer wie arbeitet und entscheidet, da ist man manchmal schon lost in translation ." Einiges musste die Crew vor Ort improvisieren, einrichten, besorgen. Zum Beispiel eine Bühnenunterhose für Pohl.

Vorab geregelt wurde jedoch das Finanzielle. "Es gibt Gastspiele, an denen verdienen wir. Und es gibt solche, da ist es aufregend, in eine ferne Stadt zu reisen und dort zu spielen", sagt Geschäftsführer Ludwig von Otting. Der Peking-Trip zählt zur letzteren Kategorie. 60 000 Euro kostet die Tour, finanziert vom Goethe-Institut und einem privaten Mäzen. Die Hotelkosten zahlt der Gastgeber, das Thalia wird für die Unterbringung sorgen, wenn Lins Kompanie als Austausch Ende Januar zu den Lessingtagen nach Hamburg kommt. Spannend ist, ob das Hamburger Publikum von Lins Inszenierung "Der Unterhändler" dann auch so überrascht und erschüttert sein wird wie das chinesische von Percevals Hamlet.

Hektisch schauen drei junge Chinesinnen am Abend der Peking-Premiere umher, als die ersten Sätze auf Deutsch ertönen. Erst als sie die Übertitel in den ihnen vertrauten Schriftzeichen entdecken, kichern sie erleichtert. Doch am heftigsten sind die Reaktionen in den Szenen, die keinen Text brauchen. Wenn Ostendorf seinem Hamlet-Alter-Ego Pohl mehrfach ins Gesicht schlägt, blicken sich die Zuschauer verstört an. Wenn Heiko Raulin, der anstelle von Mirco Kreibich mitgereist ist, die Schauspieltruppe als kongenialen Ein-Mann-Slapstick mimt, ist das Gelächter groß. Den meisten Jubel erntet jedoch Pianist, Gitarrist und Sänger Jens Thomas. Seine schamanische Performance reißt das Publikum immer wieder zu begeistertem "Hoo Hooo" hin. "Die Musik steht für die tiefe Trauer Hamlets", wird Luc Perceval am nächsten Tag im Publikumsgespräch sagen. Der Schmerz wie die Schönheit, sie machen sprachlos. Und sagen doch mehr als 1000 Worte.