Der Countertenor Philippe Jaroussky verneigt sich mit dem Album “Caldara in Vienna“ vor dem Wiener Hofkomponisten Antonio Caldara.

Weiße Haut schimmert auf sanft gerundeten Männerarmen, Männerschultern, Männerhälsen - und zugleich betören engelsgleiche Knabenstimmen die Ohren, sodass die dekolletierten adligen Damen in ihren Logen aufseufzen oder in Ohnmacht fallen: Das 18. Jahrhundert war das Jahrhundert der Kastratomanie. Seit einigen Jahren erlebt sie eine Neuauflage. Countertenöre singen heute das riesige barocke Opernrepertoire - dank immer perfekterer Kopfstimmentechnik ganz ohne Einbußen in der Leibesmitte.

Anfang des 20. Jahrhunderts (erst!) wurde die Kastration verboten. Daher wissen wir nicht, ob die Countertenöre wirklich so klingen wie einst der legendäre Farinelli und seine Konkurrenten. Den Musikbetrieb kümmert's nicht. Der stilisiert die Countertenöre eifrig zu Erben; Literatur und Kino weben mit an den erotischen Mythen um die Zwitterwesen; die italienische Mezzosopranistin Cecilia Bartoli präsentiert sich auf einem CD-Cover halsabwärts als nackter Marmorjüngling.

Eine Nummer kleiner geht's wohl nicht. Oder doch? Der Franzose Philippe Jaroussky, mit seinen 32 Jahren und ungezählten preisgekrönten Einspielungen der hellste Stern am Countertenorhimmel, begnügt sich für seine neueste CD "Caldara in Vienna" mit einem schlichten Porträtfoto. Mehr an Inszenierung, gar ein Spiel mit Primärreizen hat er offenbar nicht nötig. Jaroussky ist sowieso längst zur Ikone der Opern-Aficionados avanciert; dank seiner verwirrend androgynen Ausstrahlung auch in den Schwulenforen.

Jeder Ton der Opern-Arien legt Zeugnis ab davon, worum es Jaroussky und seinen Mitstreitern, dem Concerto Köln und der französischen Dirigentin Emmanuelle Haïm, geht: um die Musik selbst, um eine Verneigung vor Antonio Caldara, jenem venezianischen Komponisten, der zu Lebzeiten genauso berühmt war wie sein Landsmann und Zeitgenosse Antonio Vivaldi. Beide Antonios wirkten in Wien; Caldara war von 1716 bis zu seinem Tode 1736 Vizekapellmeister Kaiser Karl VI. und trug mit der Fülle seiner Opern zum einzigartigen Glanz des höfischen Musiklebens bei. Aber während Vivaldi ein Allzeitstar wurde, kennen Caldara heute fast nur beflissene Geigenschüler.

An der Qualität der Kompositionen liegt das nicht, das zeigt diese Einspielung. Dieses Kaleidoskop an Arien steht in der klanglichen Farbigkeit und atmosphärischen Vielfalt, in der Raffinesse des Tonsatzes und im melodischen Schmelz den Opern Vivaldis in nichts nach. Ein hübsches Wechselbad der Empfindungen ist es; hoch virtuose Koloratur-Arien wechseln etwas zu verlässlich ab mit Lamenti und duftigen Hirtenweisen.

Leider bleibt der Konzertmeister, der das delikate Violinsolo in der Arie "Tutto fa nocchiero esperto" aus der Oper "Ifigenia in Aulide" zaubert, namenlos - weder das fabelhafte Concerto Köln noch die hoch spannende Dirigentin sind dem Label einen Abschnitt im Booklet wert.

Das ist aber, neben der vorhersehbaren Dramaturgie, auch schon alles, das man an der CD aussetzen könnte. Das Orchester federt nur so; das Continuo besetzt Haïm mal mit Laute, mal mit Theorbe und mal spielt sie selbst Cembalo und erzielt so verblüffende Klangkontraste. Jarousskys Koloraturen perlen mühelos, sein Timbre ist mal wieder bruchlos rund und samtweich. Nur in den allerhöchsten Höhen lässt der fahle Stimmklang ahnen, dass selbst dieser Ausnahmesänger die natürlichen Grenzen des Falsetts nicht außer Kraft setzen kann.

Ergreifender als alle Perfektion ist aber die Unbedingtheit, mit der die Beteiligten sich dem Affekt jeder Arie - mit Affekt bezeichnete man in der Barockzeit die Stimmung eines Stücks - verpflichten. Wie so oft zeigt sich das besonders in den ganz einfach gesetzten, sparsam instrumentierten Nummern wie "Se mai senti spirarti" aus "La clemenza di Tito": Da stimmen Spannungsbögen und Zeitmaß, Jarousskys immer neue Verzierungen klingen, als wären sie ihm gerade eingefallen, die Natürlichkeit seines Ausdrucks sucht ihresgleichen.

Caldaras hätte seine schnörkellose, zu Herzen gehende Musik geradezu für Jaroussky komponieren können. In Mode war damals allerdings eher das Prinzip "schneller, weiter, höher". Farinelli etwa ließ sich immer halsbrecherischere Läufe in die Gurgel schreiben, sodass Karl VI. den Sänger ermahnte, die "unendlichen Noten und Koloraturen" zu unterlassen: "Wenn Sie die Herzen einnehmen wollen, so müssen Sie einen ebneren, simpleren Weg gehen." Mit "Caldara in Vienna" wäre der Kaiser vermutlich hoch zufrieden gewesen. Sogar mit dem Cover.

Philippe Jaroussky, Concerto Köln, Emmanuelle Haïm: Caldara in Vienna (Virgin Classics); Internet: www.philippejaroussky.fr