Cameron Carpenter holt mit spektakulären Auftritten und Einspielungen die Orgel aus ihrem Schattendasein. Morgen spielt er in Hamburg.

Hamburg. Der Mann ist fit wie ein Turnschuh, spielt aber lieber in silbrigen Boots oder roten Lackstiefelchen. Dreimal die Woche macht er Liegestütze bis zum Umfallen, vor jedem Konzert noch mal 30 Stück. Der Sixpack-Bauch ruht hinter einem eng anliegenden T-Shirt, die Jeans spannt über den trainierten Beinen. Doch dieser junge Herr ist alles andere als ein tumber Muskelmann. Sein Gehirn muss man sich als eine Synapsengalaxie vorstellen, durch die ständig grob geschätzt 20 Millionen Spielmöglichkeiten auf der Orgel rasen. Er redet schnell in vollständigen, komplexen Sätzen. Und wenn der Fotograf ihn bittet, das Justin-Timberlake-Hütchen aufzusetzen, das er in der Garderobe hat hängen sehen, dann zögert Cameron Carpenter keine Sekunde, stülpt sich das Teil über seine kurzen, rabenschwarzen Haare und schaut professionellst in die Kamera. Kätzchen Kitty Ball soll mit aufs Foto? Kein Problem! Auch die ist Blitzlicht gewohnt.

Hausbesuch bei einem Genie. Cameron Carpenter wohnt mit seinem Freund im Seitenflügel eines Mietshauses in Berlin-Mitte, vierter Stock, kein Fahrstuhl. Er lebt hier noch nicht lange, aber irgendwie gehört dieser singulär begabte Musiker aus Nordwest-Pennsylvania ("Die DDR Amerikas!") nach Europa, nach Deutschland, nach Berlin. In seinem Arbeitszimmer stehen eine dreimanualige Hoffrichter-Orgel und ein brauner Blüthner-Flügel. Im Regal lauter coole DVDs, außerdem mindestens ein Dutzend Bücher von und über Bob Dylan. Carpenter liest auch de Sade, Cocteau, Susan Sontag, Marx, Leonard Cohen und Richard David Precht. Auf einem Tischchen liegt ein Bildband über den mexikanischen Maler Diego Riveira, an der Wand hängt das berühmte Schwarz-Weiß-Foto von Klaus Kinski, wie er daumenlutschend neben einer nackten Schönen kauert.

Cameron Carpenter, 29, ist der spektakulärste Virtuose, den die Welt seit Langem gesehen hat. Er brilliert auf der Orgel, einem Instrument, das wegen seiner Klangfülle und Erhabenheit die Königin der Instrumente genannt wird. "So ein Quatsch!", ruft Carpenter. "Wenn überhaupt ein Instrument König ist, dann die menschliche Stimme, denn die hat den höchsten Marktwert. Die Orgel ist bestenfalls ein König Ohneland. Vernachlässigt. Vergessen. Und wenn ich König höre, muss ich an Idi Amin denken oder an Budweiser. Bourgeoiser Mist. All diese Klischees müssen zerstört werden. Sie halten uns von den tieferen Wahrheiten fern, die die Orgel zu bieten hat. Dieses Gerede ist wie all die schönen Pfeifen, die man von der Orgel sieht: eine Lüge. Sie verschleiern das Innenleben der Orgel."

Als Vierjähriger sah der Ofenbauersohn in einer Enzyklopädie die Abbildung eines schick angezogenen Mannes, der eine Kinoorgel bediente. "Ich hatte einen solchen Hunger nach Glamour und Performance, das mich dieses Bild schwer beeindruckt hat." Die Eltern stellen ihm eine Hammond B 3 in die Werkstatt, parallel lernt er Klavier spielen. Die Begabung wird durch den Eintritt in den American Boys Choir gefördert. Außerdem tanzt der Junge Step, Modern Dance und Ballett.

Wohl deshalb geht ihm das Wort Choreografie fürs eigene Tun so leicht über die Lippen. Man muss die tänzerische Eleganz und Kraft, die er am Instrument entfaltet, mit eigenen Augen sehen und mit eigenen Ohren hören - und wird doch Mühe haben, dieses Ereignis für wahr zu halten. Der hübsche Tastenmagier spielt mal eben die komplette 5. Sinfonie von Mahler, ein Medley aus Kompositionen von Duke Ellington, eine absolut unfassbare Version von Mozarts "Rondo alla turca" oder donnert ein Arrangement von Bachs Toccata d-Moll so aus Tasten und Pedalen, dass einen dieses Stück, einer der wenigen echten Orgel-Gassenhauer, so sprachlos macht wie beim ersten Mal.

In beinahe jedem Takt wechselt die Registrierung und damit die Klangfarbe, wobei Carpenter die zahllosen Kombinationsmöglichkeiten nicht als Selbstzweck missbraucht. In seiner fesselnden Bearbeitung des "Erlkönigs" von Schubert etwa legitimiert er jede Klangentscheidung durch den Inhalt der gruseligen Ballade.

Weil ihm die meisten Orgeln des 20. Jahrhunderts gehörig auf die Nerven gehen - "zu flach, zu dünn, zu asketisch, gesichtslos, der reinste Plattenbau" -, arbeitet Carpenter an der Entwicklung einer virtuellen Pfeifenorgel, die all seinen hohen klanglichen Anforderungen gerecht wird. Auf diese Weise entfiele all das nervenaufreibende Kennenlernen und Registrieren fremder Orgeln, für das immer so viel Zeit draufgeht, dass er die Vorstellung selbst gar nicht mehr proben kann.

Der Orgel in der Laeiszhalle, an der Cameron Carpenter morgen sein Hamburg-Debüt gibt, steht ein Härtetest bevor. Andernorts soll unter den Händen und Füßen dieses begnadeten, exzentrischen Virtuosen schon manches Instrument zu Bruch gegangen sein.

Cameron Carpenter, Do 25.11., 20.00, Laeiszhalle, Johannes-Brahms-Platz (U Gänsemarkt), Tickets 18,- unter Telefon: 35 76 66 66