Vor 100 Jahren starb Leo Tolstoi. Seine großen Gesellschaftsromane erzählen von längst vergangenen Zeiten - auf höchst aktuelle Weise.

Hamburg. Das Fleisch ist schwach, es treibt die Romanheldin Patty in Jonathan Franzens "Freiheit" in den Ehebruch. Der ist eines der großen Themen der Literaturgeschichte, und deshalb ist Franzens Zitat der großen bürgerlichen Gesellschaftsromane eine ziemlich selbstbewusste Hommage. Die Szene in dem Bestseller, in der die untreue Ehefrau schlaftrunken zu dem besten Freund des Gatten ins Bett schlüpft, ist aber auch ein Vexierspiel besonderer Güte: Sie tut es ausgerechnet nach der Lektüre der entsprechenden Stelle in "Krieg und Frieden". Das Werk Leo Tolstois ist eines der größten der Weltliteratur, man sollte es in der Tat mal wieder lesen, auch ohne erotische Hintergedanken. Am 20. November vor 100 Jahren starb der große Tolstoi - als der damals meistbewunderte und vielleicht auch bekannteste Schriftsteller der Welt.

"Film-Operateure" waren in den Jahren vor seinem Tod hinter dem greisen Schriftsteller her, er hatte ein äußerst zwiespältiges Verhältnis zum gerade neu erfundenen Medium "Film". Aber kurz vor seinem Tod wollte der Literaturstar noch ein Drehbuch schreiben, es kam nicht mehr dazu. Nicht schlimm: Seine großen Romane "Anna Karenina" und "Krieg und Frieden" waren filmisch aufgebaut. Der Hanser-Verlag hat zuletzt die beiden kanonischen Bücher neu übersetzen lassen, so lesen sich die großen Gesellschaftspanoramen anno 2010 elegant und heutig. Aber wie anders ist die dargestellte Gesellschaft der russischen Grafen und gesellschaftlichen Konventionen; diese alte Welt, in der sich Dramen abspielen, wenn eine scheinbar unverrückbare Ordnung gestört wird, wirkt von heute aus gesehen wie eine Erfindung.

Und so finden die Gesellschaftspanoramen Franzens und Tolstois vor allem im Hinblick auf die Spiegelung von Familiengeschichte und staatlicher Krise eine Gleichheit: In "Krieg und Frieden" droht die napoleonische Modernisierungs- und Kriegsmaschinerie, in "Freiheit" der Irak- und Afghanistankrieg den Status quo zu zerstören.

Und vor diesem Hintergrund wird gelitten und geliebt, gestritten und gehandelt. Auf gewisse Weise wirkt die Welt, wie sie Tolstoi in seinen Romanen beschreibt, statisch; als wäre sie ein Rasternetz der weitverzweigten Familien, die die Macht in dem riesigen Russland unter sich aufteilen. Wenn die Regelmäßigkeit dieser Stammbäume aufgebrochen wird, entsteht der Stoff für Romane: In den Familienverbünden ist ein einfaches Gesetz verankert, das auf einer Wahrung des Namens beruht, auf der Familienehre und allen gesellschaftlichen Konventionen, die aus ihr erwachsen. Eine außereheliche Affäre ist ein Grund, den Rivalen zum Duell zu fordern, eine gute Heirat die Absicherung für die eigene Sippe. Die persönlichen Krisen, die aus einer solchen Konditionierung auf die Familienehre entstehen, sind monumental.

Den ausführlichen Schlachtenbeschreibungen des Krieges gegen Napoeleon korrespondieren die genauso ausführlichen Beschreibungen der der gesellschaftlichen Zusammenkünfte (Soireen, Jagden, Kulturabende, Feste) in der feinen Gesellschaft, auch hier werden Schlachten geschlagen. "Krieg und Frieden" ist über 2000 Seiten lang. Erzählökonomie war Tolstoi fremd.

In jeder Figur des Epos ist eine eigene Idee von der Welt angelegt, in der sich die Zeit bündelt. Aber geführt werden Fürst Andrej, sein ungeschlachter Freund Pierre und die Femme fatale Natascha Rostowa, um nur drei von über 250 Figuren zu nennen, von den Regungen ihres Herzens, auf eine Weise ist "Krieg und Frieden" nichts anderes als ein Schmachtfetzen.

Die erzählerische Macht dieses Werks sei ohnegleichen, hat der deutsche Großschriftsteller Thomas Mann einst gesagt. Dem kann man nur zustimmen, weshalb sich die gern gestellte Frage erübrigt, warum man denn heute dies oder jenes schon uralte Buch noch lesen solle: Es unterhält, es zieht den Leser in eine zugleich fremde und bekannte Welt. Denn natürlich ist das Streben nach Glück, von dem jeder gute Roman implizit handelt, zeitlos, es unterliegt nur anderen Rahmenbedingungen.

Die Familienverbünde sind heute nicht mehr von Bedeutung, wenn es um die eigene Identität geht. Es sind nicht mehr die "Spiele um alles oder nichts" (Matthias Waltz), die die Gesellschaft im Innersten zusammenhalten, und so sind zum Beispiel die Figuren in einem zeitgenössischen Roman wie "Freiheit" flirrende Wesen, die mal hier-, mal dorthin flattern.

Die ausdifferenzierten Beziehungsgeflechte der (Post-)Moderne verlangen nicht mehr die hohen Einsätze wie die alte, überkommene Welt. Realistisch erscheint uns eine Welt, in der der Mensch theoretisch der werden kann, der er werden will - als aufgeklärtes Subjekt. Die Schicksale der modernen Menschen erscheinen uns willkürlicher, unsteter, offener; obwohl eine nachdenkliche und intellektuelle Figur wie Pierre Besuchow in ihrem Wankelmut und angesichts ihrer fortgesetzten Identitätskrise ganz gut in die matte Welt der Wohlstandsamerikaner passte.

"Krieg und Frieden", dieses dicke Buch, das unser Herkommen aus einer einfach strukturierten Welt beschreibt, gibt Zeugnis einer Ordnung, wie sie Tolstoi, der Herr über das Gut Jasnaja Poljana, überwunden wissen wollte. Der Adelige und religiöse Anarchist wollte die Bauern befreien, er verdammte, ohne zum Parteigänger des Sozialismus zu werden, die Dekadenz der reichen Kaste.

"Es gibt keinen Grafen Tolstoi mehr, nur noch einen unglücklichen Sterblichen, der für die Vervollkommnung der Liebe kämpft", schrieb er in den letzten Jahren seines Lebens in sein Tagebuch. Die großen und kleinen Dramen unserer Vorväter hat dieser unwillige Graf zu großer Literatur geformt.