Schauspielerin Nora von Waldstätten ist die Frau für abgründige Rollen. Aktuelles Beispiel: die unnahbare Terroristen-Ehefrau Magdalena Kopp.

Berlin. Sie sieht aus wie eine Mischung aus Berlin-Mitte-Mädchen und ätherischer Waldfee. Der Oberkörper ist in viele Lagen weißen Kaschmirstoff gehüllt, sie lächelt zart wie ein Blumenkind vor dem Einmarsch des Brautpaares: "Hallo, ich bin Nora." Bekannt geworden allerdings ist Nora von Waldstätten als mordende Internatsschülerin im "Tatort", in dieser Woche feiert sie als Terroristenbraut ihren Durchbruch im europäischen Kino. Die Schauspielerin mit dem Marmorteint und dem dunkel schimmernden Haarteppich zeichnet sich im Beruf aus durch ein Faible fürs Düstere, Abgründige - und all jene, die sie für unschuldig wie Schneewittchen halten, haben sie noch nicht auf der Leinwand gesehen.

Nora von Waldstätten, das wird schon nach wenigen Minuten im selben Raum deutlich, ragt aus der Masse der durchschnittslangweiligen Darstellerinnen heraus. Wie ein Schuss eisgekühlter Wodka ergießt sie sich über die Fernsehwüste Deutschlands. Weil sie ein Geheimnis andeutet. Weil sie scheinbar Unvereinbares mühelos zusammenbringt: das Unnahbare und die authentische Haltung, das Verträumte und den Blick aus gefährlich funkelnden Katzenaugen. Um es kurz zu machen: Die 28-Jährige ist die wohl interessanteste Entdeckung, die das deutsche Kino derzeit zu bieten hat. Das Mädchen des Moments. Die legitime Nachfolgerin von Jessica Schwarz und Nora Tschirner, denen ebenfalls die Gratwanderung gelungen ist, von Männern und Frauen gleichermaßen gemocht und als Schauspielerin ernst genommen zu werden. Sie kleistern ihre Figuren nicht zu mit Pathos, sondern verleihen ihnen eine eigene, unverwechselbare Aura. Eben das, was man Wahrhaftigkeit nennt.

Bei Nora von Waldstätten ist es aktuell Magdalena Kopp, die deutsche Ehefrau und Komplizin von "Carlos - der Schakal" im gleichnamigen Film des französischen Regieausnahmetalents Olivier Assayas, der in Cannes seine Premiere feierte. Die Frau im Hintergrund, die Transporte organisierte, Dokumente fälschte und mehr als zehn Jahre liiert war mit dem selbsternannten Superstar der Unterwelt, der sie unterdrückte, betrog, manipulierte und der insgesamt 1500 Menschenleben auf dem Gewissen haben soll. Fast schon ein Ritual bei der Rollenvorbereitung sind die schwarzen Moleskinebücher, in denen sich von Waldstätten jeder Figur akribisch widmet: Lieblingsfarbe, Lieblingsdrink, wovor hat die Frau Angst? Eine imaginierte Spurensuche, an deren Ziel eine Form des Begreifens steht. Nicht die vollkommene Entschlüsselung. Magdalena Kopp, nach außen verführerisch, innerlich zunehmend abgestumpft, erwies sich als besonders harte Nuss; sie zu fassen brauchte es zwei eng beschriebene Notizbücher.

Überhaupt lief bei "Carlos" alles etwas anders als gemeinhin üblich: Statt eines Castings traf Regisseur Assayas die Schauspieler zu einem Gespräch über die jeweilige Rolle. Darüber hinaus vertraute er seiner Intuition und dem, was er vor sich sah. In von Waldstättens Fall wohl: ein Talent. Und eine Unbeirrbare, wie auch die somnambule Magdalena Kopp eine war. Aus 92 Drehtagen in zehn Ländern entstanden schließlich satte 330 Filmminuten - eine Tour-de-force für alle Beteiligten, körperlich und emotional: "Es war hart, während des Drehs zu merken, wie sehr mich all das berührt. Und nach dem Dreh war es ein Prozess, diese Filmfamilienwelt loszulassen", erzählt Nora von Waldstätten mit überraschend dunkler Stimme, die ihre Ursache nur zu einem klitzekleinen Teil in dem Päckchen Gauloises-Zigaretten haben kann, das vor ihr auf dem Tisch liegt. Es waren drei Monate in einem fremden, von der Wirklichkeit abgeschotteten Universum, einer Gegenwelt. Aber macht nicht genau das den Reiz des Berufs aus?

Nora von Waldstätten, die mit sechs Jahren das erste Mal für eine Ballettaufführung auf der Bühne stand, hat die renommierte Ernst-Busch-Schauspielschule besucht, sie gehört zum Ensemble des Deutschen Theaters in Berlin und hat alle wichtigen Auszeichnungen eingeheimst, die die Filmbranche an den Nachwuchs zu vergeben hat. Wichtiger noch als das: Sie hat keine Wohlfühlrollen gespielt, keine Unschuldslämmer, die den Zuschauer schon in den ersten Minuten auf ihre Seite ziehen, weil das Drehbuch es so beschlossen hat. Ihre Liebe gilt komplizierten Charakteren, bei denen ein schöner Rest von Uneindeutigkeit zurückbleibt. Die Täterinnen und Opfer gleichermaßen sind und Schauspielern mehr abverlangen als eine leichte Variation ein und desselben Gesichtsausdrucks und sauber gelernten Dialog. "Man sieht sich ja selbst gerne in einem Ideallicht. Aber es gibt Rollen, um die spielen zu können, muss man in Ecken von sich blicken, die alles andere als nett sind und die man nicht so gerne wahrhaben möchte", beschreibt von Waldstätten ihren Beruf, der so betrachtet wenig glamourös klingt, sondern ziemlich anstrengend.

Akkurate Anmut hin, kühler Sexappeal her, Nora von Waldstätten ist als Schauspielerin vor allem eine Kämpferin mit präziser Intuition. Ihr Vorbild: Stilikone, Menschenfreundin, Disziplinwunder und Jahrhundertschauspielerin Audrey Hepburn. Ja, vor dem Tiffany's-Schaufenster würde sich von Waldstätten auch gut machen, keine Frage. Wenn sie eine Haarsträhne aus dem Gesicht hebt, was sie im Gespräch häufig tut, geschieht das ähnlich elegant wie Hepburns Griff in die Croissanttüte. Einziger Störfaktor in diesem Bild: die unmodisch-modische schwarze Hornbrille, die vielleicht sagen soll: "Ich bin keine Diva" oder auch nur schlechten Dioptrinwerten geschuldet ist.

Nora von Waldstätten entstammt einem alten Wiener Adelsgeschlecht, sie ist die Zweitjüngste von vier Geschwistern. Es ist eine Herkunft, die einen vermutlich vorbereitet auf ein außergewöhnlicheres Leben, als es der Durchschnittsdeutsche lebt. Und doch ist der Sprung in die Bekanntheit, in die Welt der roten Teppiche und internationalen Marktwerte ein mühsamer. "Es ist schon komisch, wenn man nicht genau weiß: Lächelt jemand jetzt, weil er dich sympathisch findet oder weil er dich erkannt hat", sagt von Waldstätten. Ihr Rezept? Öfter mal ein ruhiger Abend mit der besten Freundin statt eines Sehen-und-Gesehenwerden-Auftritts im Berliner Szenetreff "Grill Royal". Denn: "Wichtig in dem Beruf ist, dass man weiß, wo der eigene Norden und Süden ist", sagt sie entschieden, man darf annehmen, dass sie Wert legt auf die Ausrichtung des eigenen Kompasses. Vielleicht läuft es am Ende auch einfach auf die schlicht-schöne Sepp-Herberger-Weisheit hinaus: "Nach dem Spiel ist vor dem Spiel", die von Waldstätten zitiert, und die fürs Schauspiel ebenso gilt wie für den Fußball.

Hinter Nora von Waldstätten liegt ein "verrücktes, unglaublich intensives Jahr". Eine Ausnahmeperformance in einem Ausnahmefilm. Vor ihr liegt: eine Karriere, deren Halbwertszeit länger andauern wird als nur ein Quartal, so viel ist mal sicher. Das deutsche Kino hat genug Sommermädchen. Die Zeit ist reif für eine Winterkönigin.