Vom Gängeviertel bis zur Staatsoper demonstrierte Hamburgs Kultur am Thalia-Theater Geschlossenheit gegen die Sparpolitik des Senats

Hamburg. "Dieser Text schreibt sich andauernd fort", sagte Regisseur Nicolas Stemann über Elfriede Jelineks "Die Kontrakte des Kaufmanns". Und wie er sich fortschrieb an diesem unterhaltsamen, klugen, sarkastischen, rührenden, grandiosen Donnerstagabend im Thalia-Theater! Dieser Text, er schrieb, während er sich in kurzen vier Stunden der Hamburger Realität anverwandelte, nicht weniger als Geschichte.

Die Literaturnobelpreisträgerin hatte diesen Text ursprünglich als Kommentar auf die Gier von Investment-Bankern geschrieben. Doch indem Stemann die geballte Hamburger Kulturszene zur Solidaritätsinszenierung auf die Bühne holte, geriet das Stück vor allem zu einem kunstvoll überhöhten Protest gegen die Sparpläne des Senats. Und zu einer unvergleichlichen Demonstration, wie geschlossen die Reihen von Sub- bis Hochkultur, vom Gängeviertel über die Bücherhallen bis zur Staatsoper, nicht einverstanden sind mit der Hamburger Politik.

Neben zahlreichen Höhepunkten dieser Diskurs-Revue war es vor allem der Auftritt von Ballett-Chef John Neumeier, der überdeutlich machte, dass zwischen die einzelnen Sparten und Szenen der Hamburger Kultur momentan kein Blatt passt. Ohne, dass das Schaffen des jeweils anderen bis in die Tiefe begriffen werden müsste. "Ich habe den Text leider nicht ganz verstanden", sagte Neumeier. Zuvor hatte er Seite 29 des Skripts vorgetragen, das per Digitalanzeige auf der Bühne von 100 auf 0 heruntergezählt wurde.

Die Botschaft des Amerikaners war dafür umso klarer: "Eine Stadt, die sich die Elbphilharmonie leistet, muss sich auch alle anderen Kultureinrichtungen leisten", sagte Neumeier mit fester Stimme. Und um die Gänsehaut perfekt zu machen, fügte er hinzu: "Ganz wichtig: Kultur ist das, was Menschen machen." Da gab es im Saal, wie so oft an diesem Abend, kein Halten mehr vor Jubel. Nicht verwunderlich also, dass das Thalia am Freitag auf seinem Facebook-Profil notierte: "Hin und weg von Hamburg im Kunstrausch."

Und dieses beglückende Gemeinschaftserlebnis war vor allem Nicolas Stemann zu verdanken, der an diesem Abend nicht nur als Regisseur agierte, sondern zudem als Darsteller, Pianist, Rotweintrinker, Sänger, Kulturmarktschreier und als großer agiler Dirigent des Ganzen. Nach und nach fügte er in seine "Textumsetzungsmaschine" zunächst das Ensemble des Deutschen Schauspielhauses ein, das wie ein Mix aus Varieté-Truppe und Rokoko-Zirkus gewandet war. Und als Andeutung auf das vom Sparen gebeutelte Haus schlich Jana Schulz immer wieder als missmutige Ratte über die Bretter.

Dem Business-Talk der Banker (gewohnt großartig das Thalia-Ensemble von Patrycia Ziolkowska bis Sebastian Rudolph) setzten die Kultur-Revolutionäre des Schauspielhauses Vokabeln wie "Freiheit", "Ehre" und "Gerechtigkeit" entgegen. Doch diese Worte, sie haben ihre Unschuld längst verloren und werden zum Marketing-Sprech im Geschäftsbericht. Ebenso wie sich der Hamburger Kulturslogan 2009, "Komm in die Gänge", bei Stemann zum Motivationsspruch eines Controllers wandelt. Großes Gelächter im Publikum.

Das Eindrucksvolle dieses Abends war aber auch, dass das sonstige Hamburger Kulturleben ja keineswegs brachlag. Die Kulturfabrik Kampnagel schickte Regisseurin Monika Gintersdorfer ans Alstertor, zusammen mit einem der Wort- und Körperakrobaten des Rue-Princesse-Festivals, das parallel in Barmbek Premiere feierte. Grande Dame Nadja Tiller rauschte von der "Sintflut"-Inszenierung im HafenCity-Zelt als güldene Prophetin herein. Und Generalintendantin Simone Young kam zum Zuschauen mit ihrer Dramaturgin Kerstin Schüssler-Bach von einer "Götterdämmerung"-Probe aus der Staatsoper vorbei. Auf die Bühne entsandte Young Renate Spingler. Die Mezzosopranistin gab in weißer Uniform als Karlheinz Orlowski (eine Anspielung auf die "Fledermaus"-Arie, die sie vortrug) eine Ein-Frau-Persiflage auf das von den Sparmaßnahmen ausgenommene Polizeiorchester.

Es wollte gar kein Ende nehmen, wie sich da die Hamburger Kultur aufs Subversivste und Schönste vermischte. Und alles, alles machte Sinn. Pudel-Klub-Entertainer Rocko Schamoni sang "Geld ist eine Droge und ihr seid alle drauf", was nahtlos überging in eine Satire des von der Schließung bedrohten Altonaer Museums. Zwei Vertreterinnen marschierten mit Protestschildern ein und riefen die Gäste direkt mal auf, doch bitte alle ein Werk aus dem Bestand bei sich im Wohnzimmer oder auf dem Dachboden zu verwahren. Die Telefonnummer der Restauratorin gibt es frei Haus dazu ("Die restauriert sich auch immer wieder von selbst").

Der Sparbeschließer selbst, Kultursenator Reinhard Stuth, der auch am Freitag noch aus seinem Urlaub schwieg, er war zwar nicht im Auditorium, aber auf der Bühne hoch präsent. Bereits eine angeheftete Fliege reichte aus. Und schon verwandelte sich Stemann ebenso in Stuth wie später in der Nacht Schauspieler Michael Prelle, der bei der After-Show-Revue in der Haifischbar (alias Schauspielhaus-Kantine) eine mit dem Rotstift fuchtelnde Parodie auf den Politiker gab. Stuth wurde zum Running Gag. Ob beim Ball mit Reinihard-, Ole- und Angie-Masken oder bei der im Chor angestimmten und frei nach den Beatles interpretierten Hymne "Hey Stuth, don't make it bad", die sich zum Happening auswuchs. Hamburgs Live-Aid-Song zusagen.

Am symbolträchtigsten aber war wohl der Schluss: Die Akteure stiegen über die Sitze im Saal. Um dies erhobenen Hauptes tun zu können, brauchten sie als Stütze die Hände der Zuschauer. Und die Hamburger Bürger, sie streckten ihnen die Arme offen entgegen.