Thomas Lehrs literarisch auffälliges “September. Fata Morgana“ war für den Buchpreis zu ehrgeizig

Wenn Thomas Lehr Pech hat, dann muss er während der Podiumsgespräche der Frankfurter Buchmesse, auf den Gängen und Partys derselben immer dieselbe Frage beantworten. Warum er denn, um Himmels willen, stilistisch so dermaßen dick aufgetragen habe in seinem neuen Roman "September. Fata Morgana", warum sein Kunstwillen so groß sei, warum er so, nun ja, schwierig schreiben müsse? Ob er sich deswegen vielleicht selbst um den Deutschen Buchpreis gebracht habe? Letztere Frage stellen nur sadistisch Veranlagte, die, wahrscheinlich aus guten Gründen, die Poetik des 52-jährigen Schriftstellers (der von den sechs Finalisten des Deutschen Buchpreises vielleicht das größte Talent besitzt) infrage stellen.

Diese Poetik kommt in "September. Fata Morgana", buchstäblich und augenfällig, ohne Punkt und Komma aus. Das Buch besitzt eine höchst auffällige Konstruktion, die auf atemlosen Worthäufungen und atemholenden Zeilensprüngen in den hier alle anderen Erzählformen ausschließenden Monologpassagen beruht: Man muss sich in die Lektüre hineinarbeiten, "ich fordere Konzentration", sagt der Autor selbst. Viele sind nicht bereit, die aufzubringen. Sie alle verpassen einen wichtigen Gegenwartsroman, der sprachmächtig und zutiefst menschlich die große Katastrophe des 11. September 2001 behandelt.

Aus vier Perspektiven wird dieses weltgeschichtliche Ereignis geschildert, wobei das Erleben der irakischen Seite, dargestellt, gedacht und durchdrungen von dem Arzt Tarik, einem sensiblen und moralisch integeren Mann, und seiner Tochter Muna, einer sympathischen Schülerin, das Spiegelbild des Terroranschlags betrifft: den Irak-Krieg. Das komplementäre Gegen-Paar Tariks und Munas sind der deutsch-amerikanische Goethe-Forscher Martin und seine Tochter Sabrina. Sie alle stehen für die persönliche, die menschliche Seite von Krieg und Schrecken, von geopolitischen Überlegungen und verblasenen Patriotismen, und der lyrische Ton, den der dauersprudelnde Quell ausstößt, steht wohl irgendwie auch für das Verhängnis, in das die Beteiligten unausweichlich hineingezogen werden. Die Leiden eines Vaters im Irak: "als ich nach diesen irren Wochen in denen mein Leben nur aus Depression Wut Selbstvorwürfen und sich verbietenden Suizidgedanken bestand

meine Tochter abholen konnte ein wimmerndes Bündel auf dem blanken Betonfußboden einer für ein Dutzend Frauen verwendeten Zelle habe ich mir zwei Dinge geschworen nämlich dabei zu helfen die Opfer des (Ancien) Regimes zu zählen und über die Bomben zu jubeln die es beseitigen würden"

So geht der Text - über die gesamte Länge. Und es ist wirklich so: Hätte der versierte Erzähler Lehr die suggestive, sprachlich dichte Erzählweise pointiert eingesetzt und seinen Roman zu einem Montagewerk der Stile (unter ihnen: die konventionelle Perspektive des nicht beteiligten Erzählers) gemacht, dann hätte er die Möglichkeiten modernen Schreibens perfektioniert. So ist sein Buch ein Poem für Philologen, keins für das Lesepublikum.

Thomas Lehr: September. Fata Morgana. Hanser Verlag. 478 Seiten, 24,90 Euro.