Das Filmfest Hamburg eröffnet mit der Biographie “Gainsbourg“, für den Festivalleiter Albert Wiederspiel ein persönlich wichtiger Film.

Hamburg. Das Handy klingelt ohne Unterlass, sein Besitzer ist rastlos, der Blick leicht übernächtigt. Dass dieser Mann ein Festival leitet, ist kein Zufall. Und nicht eine Sekunde lang vermittelt Albert Wiederspiel beim gemeinsamen Frühstück den Eindruck, er könne ebenso gut als Zoodirektor arbeiten, als Gärtner oder Bibliothekar. Film ist sein Element; Begegnungen auf der Leinwand haben sich mit seiner Biografie verschmolzen und ihn, wenn man so will, zu dem Menschen gemacht, der er heute ist. Wer beim diesjährigen Filmfest Hamburg genau hinsieht, erkennt im Programm unverkennbar Wiederspiels Handschrift, um nicht zu sagen: ein stückweit ihn selbst.

Das beginnt beim Eröffnungsfilm "Gainsbourg", der sich dem Leben der französischen Chansonlegende widmet. Dabei ist der 49 Jahre alte Wiederspiel ein ausgemachter Gegner feinfühliger Leinwandbiografien, abgefilmt von Geburt bis Tod. Aber hier liegt der Fall anders: "Gainsbourg" erzählt mit einem Nachdruck von jüdischer Identität, dass einem schwindelt. Er inszeniert seine Hauptfigur als Außenseiter im Paris der 60er-Jahre, lässt ihn provozieren und straucheln und wieder aufstehen. Vertrautes Terrain für Wiederspiel, der ebenfalls jüdische Wurzeln hat und sich überall und nirgends auf der Welt zu Hause fühlt. Der fließend Polnisch, Dänisch, Französisch, Englisch und Deutsch spricht, zu seinem Bedauern aber keine Muttersprache hat. Ein Weltenbummler, der das Streitbare, Fremdartige sucht, es mit weiter Umarmungsgeste einfängt und nach Hamburg transportiert. Hinein in sein Festival, hinaus zu den Menschen.

Wiederspiel ist anders, als man sich jemanden seines Rangs vielleicht vorstellt. Anders als der omnipräsente Berlinale-Chef Dieter Kosslick, inoffizielles Maskottchen des Festivals und zugleich sein größter Trumpf. Was Enthusiasmus und Engagement für den Film als solchen und bestimmte Werke im Besonderen betrifft, steht Wiederspiel dem Berliner Kollegen in nichts nach. Am letzten Filmfesttag wirkt er meist müde, aber sehr zufrieden. Wie ein Feldherr nach siegreicher Schlacht. Film sei, sagt Wiederspiel - Croissant kauend, stuhlkippelnd - "die einzig beständige Sache in meinem Leben".

ZWISCHEN BEATLES UND GREEN CAPITAL

Ein "schlechter Alleingucker" sei er allerdings - und an dieser Stelle kommt Gustav Peter Wöhler ins Spiel, Wiederspiels Lebensgefährte, den er 2008 heiratete und mit dem er die Wohnung auf der Uhlenhorst teilt. Wer den Schauspieler und den Filmfestechef je bei einem gemeinsamen öffentlichen Auftritt erlebt hat, konnte sich überzeugen: Hier passen zwei Menschen nicht nur in Hinblick auf Körpergröße und -umfang geradezu ideal zueinander, sie ergänzen sich auch in Haltung, Geist, Humor. Wiederspiel ist kein Mann großer öffentlicher Gefühlsbekundungen, hinreißen lässt er sich immerhin zu dem Satz: "Zu Hause ist immer dort, wo man mit jemandem zusammenlebt, wo die Liebe ist." Also Gustav. Also Hamburg.

1911 verbrachte Wiederspiels Großmutter, die zwei Weltkriege und zwei Deportationen überlebte, ein Jahr in der Stadt, wohnte an der Grindelallee, besuchte häufig Theater und Staatsoper. Die beste Zeit ihres Lebens habe sie hier gehabt, sagt Wiederspiel, "und es ist doch ein schöner Zug des Schicksals, dass ich nun hier wohne". Der Kreis schließt sich. Nicht nur als Schicksalswink, sondern als geradezu bewusstseinsverändernd haben sich dagegen die sechs Studienjahre in Paris in Wiederspiels Gedächtnis eingebrannt. Lebensfreude habe er dort gelernt, Essen und Trinken - und noch bevor man das Wort Klischee aussprechen kann, tut er es selbst: "Es ist ein Klischee, aber erst in Frankreich habe ich gelernt, Essen zu genießen. Seither bin ich dick." Sagt es und schiebt sich den letzten Croissanthappen in den Mund. Lebemann und Denker, diese Kombination verkörpert der Mann geradezu perfekt.

Kein Wunder, dass er in seiner Pariser Zeit auch Gainsbourg für sich entdeckte - und bis heute all jene schätzt, die einen Sinn für Selbstironie beweisen, sich vom Kultureinerlei abheben. Da stand er als gerade 20-Jähriger im Pariser "Olympia" und erlebte einen "Superauftritt": Gainsbourg torkelte eine riesige Treppe hinunter, lallte, fiel besoffen um. Ein Stuntman, stellte sich wenig später heraus - und der wahre Gainsbourg spazierte stocknüchtern auf die Bühne. Da lacht Wiederspiel noch heute sein Teddybärlachen, wenn er daran denkt. Leuten den Spiegel vorzuhalten, mit ihren Erwartenshaltungen zu spielen wie der provokante Sänger mit seinem Image als betrunkener, randalierender Lümmel - ist es nicht das, was Künstler zu Künstlern macht? Und Festivalleiter zu Menschen, die Diskussionen anstoßen können, wenn sie denn wollen.

Der brennenden Zigarette als treuem Accessoire hat Wiederspiel, anders als Gainsbourg, vor Jahren abgeschworen. Drei Stunden lang schickte ihn eine dunkelhaarige Frau mit schweren, wogenden Brüsten immer wieder in den Garten zum Rauchen, bevor sie ihn in Hypnose versetzte und dem Qualm Adieu sagen ließ - und keiner glaubte so wenig an den Erfolg des Unterfangens wie Wiederspiel selbst. Eine hübsche Vorstellung ist das Bild dieser Domina, die ihre Gehirnwäschesätze auf den widerwilligen Wiederspiel niederprasseln lässt, um nicht zu sagen: filmreif.

Gainsbourg eröffnet heute das Filmfest Hamburg und startet am 14.10. im Kino.