Der Autor und Familienhistoriker Daniel Mendelsohn erzählt die Geschichte seiner in der Schoah getöteten Verwandten.

Hamburg. Die Juden wurden vergast und danach verbrannt oder erschossen und in Massengräber geschüttet. Ihr Verschwinden war fast vollständig. Denn die Toten lebten fort in den Erinnerungen derer, die überlebten. Und die mussten erfahren, "wie machtvoll Zeit, Raum und Geschichte gegen uns waren, wie unwahrscheinlich es war, dass überhaupt etwas von ihnen geblieben sein könnte". Wie verloren die Toten waren, als sie noch lebten, und wie verloren sie bleiben, wenn sie nicht mehr leben, wenn die Erinnerung verblasst. Der amerikanische Journalist und Schriftsteller Daniel Mendelsohn hat sein preisgekröntes Buch, das jetzt auf Deutsch erscheint, "Die Verlorenen" genannt und im Untertitel: "Eine Suche nach sechs von sechs Millionen".

Ein Familienzweig der Mendelsohns stammt, wie so viele amerikanische Juden, aus Galizien, dem Land der vielen Völker; in dem Gemisch hauptsächlich aus ukrainischen, polnischen und aus Russland eingewanderten jüdischen Einwohnern gärte der Antisemitismus schon lange. Als die Nazis kamen, entluden sich alte Ressentiments und der Vernichtungswille der Deutschen, sodass das jüdische Leben in der Heimat Joseph Roths (er setzt Galizien in "Radetzkymarsch" ein Denkmal) beinah vollständig zerstört wurde.

Daniel Mendelsohn, der Sammler und Familiengeschichtler (er kann nur einen Stammbaum mit faktischen Lücken malen, ein Zweig endet im Nichts), will seine in der Schoah ermordeten Verwandten "vor Verallgemeinerungen, Symbolen, Abkürzungen bewahren, um ihnen ihre Besonderheit, ihre Eigentümlichkeit zurückzugeben". Dafür liest er Bücher über Europa, interviewt seine Familie, sammelt Fotos, sucht über das Internet und spürt jedem kleinen Hinweis nach, der Aufschluss geben könnte darüber, wie es gewesen ist.

"Es", das ist das Leben und Sterben des Shmiel Jäger, seiner Frau Ester Schneelicht und der Töchter Lorka, Frydka, Ruchele und Bronia, ihre Spur verliert sich in den Jahren 1942 und 1943, als der Kontakt der längst in Amerika lebenden Familien zu dem nach Galizien zurückgekehrten Shmiel längst abgebrochen war.

Shmiel, dem Großonkel, ähnelt Daniel Mendelsohn, Jahrgang 1960, so sehr, dass bestimmte Leute bei den Familientreffen in Tränen ausbrechen, die meist in Florida, also weit weg von der Herkunftswelt, stattfinden; Daniel sieht Shmiel so ähnlich, dass es die Menschen schmerzt. Und sie fühlen sich zurückversetzt in die Zeit, als sie noch in Galizien wohnten, jenem Flecken in der Alten Welt, der mal zu Polen, mal zu Österreich-Ungarn und mal zu Russland gehörte und jetzt Teil der Ukraine ist. Bolechow heißt dieser Ort in der Erinnerung, offiziell nennt man ihn Bolekhiv. Dorthin reist Mendelsohn mit seinen Geschwistern, er reist außerdem nach Australien, Israel, Skandinavien und in andere osteuropäische Städte. Alles, um sich den hinter der kalten Formel "von den Nazis umgebracht" versteckten Menschen nahe zu fühlen. In drei Aktionen wurden fast alle der 5000 Juden, die in Bolechow lebten, umgebracht.

Mendelsohn kennt das Ende der Geschichte (es ist eine von enttäuschten Hoffnungen und Verrat), wie sie sich für seine Familie - drei Großelterteile sind in Osteuropa geboren, nur einer in Amerika - darstellt, die sechs Menschen sind tot und bleiben es. Aber er kann doch dafür sorgen, dass das Ende dieser Geschichte durch das Erzählen einer anderen aufgehoben wird. Auch wenn ihn keine Erlösung erwartet, ist die Suche nach der Wahrheit, die annäherungsweise gefunden werden kann, erfolgreich an ihren Schluss gekommen. Was Mendelsohn, der jahrzehntelang recherchierte, mit "Die Verlorenen" gelingt, ist mehr als ein Protokoll seines Erkenntnisdrangs, es ist Literatur. Wir erfahren, wie eine nicht streng gläubige Familie in New York ihre Traditionen nie ganz vergisst, und sei es die, vor dem Eintreten in ein Haus die Schuhe auszuziehen, eine Marotte, die, wie die Geschwister in der Ukraine feststellen, die Familie aus der Alten Welt mitgebracht haben muss.

Mendelsohn kommt den Ahnen immer näher, er versteht am Ende ihr Jiddisch, das ihm als kleiner Junge auf den Familienfesten immer fremd war. Wir erfahren, wie Mendelsohn zu seinem Bruder Matt auf der langen Suche nach den Altvordern eine Beziehung aufbaut, die er so vorher nicht hatte, und wie er, der Altphilologe und Textdeuter, die Thora liest. Wir erfahren wieder, wie schrecklich die jüdischen Menschen, für die doch deutsche Kultur ein hohes Gut war und das rettende Amerika zu weit weg, behandelt wurden, ehe man sie ins Gas schickte oder erschoss.

In "Die Verlorenen" wird das Unbeschreibliche beschrieben, von denen, die dabei waren, zumindest ein Stück weit; und von dem, der wissen wollte, um die Verlorenen vor dem Vergessen, vor der Anonymität in der unvorstellbaren Zahl der sechs Millionen zu retten.

Daniel Mendelsohn Die Verlorenen. Übersetzt v. Eike Schönfeld. KiWi. 633 S., 24,95 Euro.

Lesung heute, 20 Uhr, Jüdischer Salon im Café Leonor (S Dammtor), Grindelhof 59, Eintr. 10,-/5,-